© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  42/14 / 10. Oktober 2014

Die Betonung des Faktors Geist
Der Prähistoriker und Präsident der Berliner Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Hermann Parzinger, hat eine beeindruckende Geschichte der Frühmenschheit vorgelegt
Karlheinz Weissmann

Es ist Zeit für Synthesen, jedenfalls in der Geschichtswissenschaft, und das neue Buch des Prähistorikers Hermann Parzinger paßt in diesen Zusammenhang. Denn es geht um eine 800 Seiten starke, jeden Winkel des Planeten erfassende Darstellung der Entwicklung des Vor-, Früh- und Jetztmenschen bis zum Aufkommen der Schrift und damit dem Beginn der Geschichte im engeren Sinn.

Der Titel „Die Kinder des Prome-theus“ verweist schon auf die Grundthese Parzingers: daß es die Schöpfungen des Geistes waren, die den Aufstieg des Menschen ermöglichten. Man könnte diese These klassisch nennen, wenn sie nicht so stark unter den Druck der biologischen Anthropologie geraten wäre, die den Menschen möglichst nah an das Tier heranrücken will und im Zweifel alles auf „Anpassung“ zurückführt. Tatsächlich kann man das Buch Parzingers auch als Antwort auf den Anspruch der Biologie verstehen, die Geschichte der Hominiden im ganzen zu erklären.

Nicht daß er den Ausgangspunkt in der Natur verkennt, aber seiner Meinung nach war eben das „Ingenium“ unserer Spezies, die „Emanzipation von der Natur“, ausschlaggebend. Schon den Übergang von den Erstformen zum Neandertaler kennzeichnete mehr als die Fähigkeit, ein größer werdendes Gehirn mit proteinreicher Nahrung zu versorgen, immer komplexere Werkzeuge zu schaffen und schließlich das Feuer zu beherrschen. Daneben verlief ein, wenn nicht unabhängiger, so doch selbständiger Prozeß, der seinen ersten für uns erkennbaren Niederschlag im Bestattungskult der Neandertaler fand.

Ihre „Entdeckung des Jenseits“ zeigte die Richtung des zukünftigen Weges an, den diese Gattung aber selbst nicht beschritt, weil Homo sapiens sie verdrängte. Erst in seinem Fall spricht Parzinger von „kultureller Modernität“, das heißt einem Ganzen aus intellektueller Leistungsfähigkeit, symbolischer Kommunikation, gesellschaftlichem Zusammenhalt, das sich in größer werdenden, den familiären Kreis überschreitenden Gruppenbildungen ebenso äußerte wie in komplexen Ritualen und den auch heute noch eindrucksvollen Überresten der Eiszeitkunst.

Das Ende der Eiszeit hatte dramatische Folgen für Klima und Geographie. Daß die Verhältnisse in den Regionen des „Fruchtbaren Halbmonds“ weitgehend statisch blieben, machte sie nach Auffassung Parzingers zum geeigneten Laboratorium für den weiteren Ablauf des Prozesses. Betont er in bezug auf das Vorher die entscheidende Bedeutung der Jagd, nicht nur zum Zweck der Lebensmittelbeschaffung, sondern auch als Stimulation für immer neue technische und soziale Konzepte, geht es jetzt um einen tastenden Übergang zu Ortsstabilität und Lebensmittelproduktion.

Parzinger hebt hervor, daß das „Neolithische Bündel“ – Seßhaftigkeit, Ackerbau, Viehzucht, Herstellung von Keramik – den Ausschlag gegeben habe für diese Transformation, keine abrupte „Neolithische Revolution“. Dennoch hebt er die fundamentale Bedeutung der Kulturschwelle hervor und auch die Tatsache, daß sich nur an wenigen anderen Orten – an den großen Strömen Chinas, dem Gelben Fluß und dem Jangtse, gewiß, am Ganges möglicherweise, mit einiger Verspätung auf dem Territorium Mexikos – unabhängig Ähnliches vollzogen hat.

In der Folge überlebten Wildbeutergesellschaften nur in abgelegenen Gebieten oder wandelten Jäger sich zu Wanderhirten. Die Berührung mit den Seßhaften führte praktisch immer zur Annahme von deren Wirtschaftskonzept, allerdings: „Sobald der Mensch sich in seiner Nische eingerichtet hatte, wo er alles zum (Über-)Leben Erforderliche – bisweilen auch deutlich mehr als das – antraf, sah er gar keine Notwendigkeit, zu Ackerbau oder Viehzucht überzugehen.“

Dieser differenzierten Einschätzung entspricht der theoretische Ansatz des Buches, den man als gemäßigten Determinismus bezeichnen könnte: Parzinger nimmt zwar keinen notwendigen Ablauf der Menschheitsgeschichte in Richtung Hochkultur mit städtischer Siedlung, Stratifizierung und Schrift an, sieht aber sehr früh entsprechende Dispositionen gegeben, die unter günstigen Bedingungen zur Entfaltung kamen. Diese Einschätzung gilt, obwohl er häufig eher von Übertragung und „Entwicklungshilfe“ als von selbständiger Neuentdeckung fortgeschrittener Techniken oder Organisationsformen ausgeht.

Wenn man überhaupt einen Einwand gegen diese Sicht der Dinge formulieren will, dann, daß ihre Stärke in wenigen Fällen auch eine Schwäche ist. Die Betonung des Faktors Geist führt bei Parzinger dazu, daß er die Menschheit selbst da als Einheit behandelt, wo es naheliegen würde, biologische Ursachen für große Differenzen oder ein Entwicklungsgefälle zwischen Nachbarn zu vermuten. Aber den Gesamteindruck dieser außerordentlichen Leistung trübt das nicht. Das Buch Parzingers füllt tatsächlich eine Lücke, insofern es für jeden Interessierten eine gut geschriebene und anschauliche Darstellung liefert, die eine Phase der Menschheitsgeschichte behandelt, deren Bild sich in den letzten Jahrzehnten dramatisch verändert hat. Gleichzeitig mag es als Kompendium dienen, das nicht nur Informationen zu jeder denkbaren Facette des Themas enthält, sondern außerdem mit Register und einem fast hundert Seiten langen Literaturverzeichnis Handbuchcharakter besitzt.

Hermann Parzinger: Die Kinder des Prometheus. Eine Geschichte der Menschheit vor der Erfindung der Schrift. C.H. Beck, München 2014, gebunden, 848 Seiten, Abbildungen, 39,95 Euro

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