© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  42/14 / 10. Oktober 2014

Auf die Dosierung kommt es an
Oxford-Ökonom Paul Collier versachlicht die Einwanderungsdebatte. Sein in Großbritannien heißdiskutiertes Buch erreicht nun Deutschland
Michael Paulwitz

Günstiger hätte der Zeitpunkt kaum gewählt werden können: Mitten in die hochemotionale Asyldebatte platzt die deutsche Ausgabe von Paul Colliers „Exodus“, verkündet, daß wir „Einwanderung neu regeln“ müssen und beansprucht für sich nicht weniger, als das „mit vergifteten Assoziationen“ wie Armut, Nationalismus und Rassismus überladene Thema Migration auf seinen rationalen und ökonomischen Kern zurückzuführen. Und kommt dabei, zum Unbehagen manches liberalen Rezensenten, zu „eher konservativen“ Schlußfolgerungen.

Migration ist für Collier eine Tatsache. Sie werde aufgrund der globalen Einkommensunterschiede, des politischen Drucks in den Auswanderungsländern und der Anziehungskraft von Staaten mit funktionierendem Sozial-modell auf die Einwohner von solchen mit dysfunktionalem auch noch weiter zunehmen. Nationalstaaten und ihre Interessen sind allerdings ebenfalls Tatsachen. Nationen sind „wichtige, legitime moralische Einheiten; tatsächlich sind es die Früchte erfolgreicher Nationalstaatlichkeit, die auf Migranten anziehend wirken“. Entsprechend wäre die Auflösung nationaler Identitäten durch zunehmende internationale Wanderungen fatal.

Ob Einwanderung „gut“ oder „schlecht“ sei, ist für Collier deshalb die falsche Frage: Es kommt auf die Dosierung an. Einwanderungsbeschränkungen sind daher nicht nur nicht tabu, sondern sogar notwendig. Zu diesem Schluß kommt er gerade, weil er das Thema aus der Perspektive aller beteiligten Gruppen angeht: der Einwanderer selbst, der in den Herkunftsländern Zurückbleibenden und der einheimischen Bevölkerung der Aufnahmeländer.

Wer sind also die „Gewinner und Verlierer“ von Migration? Einwanderer, die einen „Fachkräftemangel“ ausgleichen, profitieren ökonomisch, die einheimische Bevölkerung verliert dagegen, weil die Industrie weniger ausbildet – „was für die Wirtschaft gut ist, nutzt nicht unbedingt auch der einheimischen Bevölkerung“. Beim Zuzug Ungelernter sinke das unterste Lohnniveau zum Schaden der ohnehin Ärmsten in den reichen Ländern – jene sind allerdings selbst häufig vor allem ungelernte Einwanderer, die nun mit den Neuankömmlingen konkurrieren. Moderate Einwanderung in den oberen Lohngruppen lasse dagegen das allgemeine Niveau steigen. Ist sie dauerhaft hoch, schadet sie dem Aus- und dem Einwanderungsland.

Den Folgen für die Herkunftsländer gilt Colliers besonderes Augenmerk. Ihnen macht der Verlust an Talenten zu schaffen, da vor allem die Motiviertesten und Wohlhabendsten bereit und in der Lage sind, die Heimat zu verlassen. Rückkehrer, unter denen sich neben solchen, die ihre Qualifikation gesteigert haben, auch viele Gescheiterte befinden, gleichen den Verlust nur unvollständig wieder aus.

Collier plädiert aus ebendiesen Gründen auch dafür, das Asylrecht – das den einkommensstarken Ländern keine ökonomischen Vorteile bringe, aber ihre „Selbstachtung“ stärke – auf „jene wenigen Länder“ zu beschränken, die „unter einem Bürgerkrieg, einer brutalen Diktatur, der Verfolgung von Minderheiten“ leiden. Asyl solle in solchen Fällen rasch und großzügig, aber zeitlich befristet gewährt werden und mit dem Wegfall des Asylgrundes erlöschen.

Migration dürfe die „gegenseitige Rücksichtnahme“ – eine Chiffre für nationale Identität und gesellschaftlichen Zusammenhalt – im Aufnahmeland nicht überfordern und zerstören, postuliert Collier. Das sei noch entscheidender als die Gefahr der Lohndrückerei durch zunehmende Einwanderung. Migrationspolitik müsse deshalb eine „verträgliche Obergrenze“ für die Bruttoeinwanderung und die Größe von Auslandsgemeinden von Einwanderern bestimmen. Diese hänge von der Rate ab, mit der die Auslandsgemeinden von der Aufnahmegesellschaft absorbiert würden. Bestimmungsfaktoren hierzu sind Qualifikation, Arbeitsmarktfähigkeit und kulturelle Kompatibilität: Je näher die Herkunftskultur zum Aufnahmeland steht, desto höher die „Absorptionsrate“ – Collier gibt der Assimilation klar den Vorzug. Heißt im Klartext: Je ferner der Kulturkreis des Immigranten, desto geringer die Zahl der risikolos Aufzunehmenden.

Collier plädiert für Punkte- oder Lotteriesysteme für legale Einwanderung und lobt das deutsche System der Arbeitsmarktprüfung als noch zielgenauer. Illegale Einwanderung müsse dagegen durch Ausschaltung der Anreize rigoros bekämpft werden. Jenseits aller „Flüchtlings“-Romantik zählt Collier den gegenwärtigen Asylansturm zu dieser Rubrik. Die Botschaft müsse lauten: Wer es illegal nach Lampedusa schafft, darf keinen Vorteil gegenüber dem legale Einwanderung Anstrebenden haben und muß rigoros zurückgeschickt werden.

Wer Einwanderungslobby und Integrationsindustrie mit Fakten statt Emotionen entgegentreten will, findet bei Collier reiches Rüstzeug. Auch die hölzerne, zu buchstäblich am Englischen klebende Übersetzung von Klaus-Dieter Schmidt schmälert den Gewinn der Lektüre nicht.

Paul Collier: Exodus. Warum wir Einwanderung neu regeln müssen. Siedler Verlag, München 2014, gebunden, 320 Seiten, 22,99 Euro

Foto: Altstadt in Turku: Pieni valhe puheen kaunistaa (Eine halbe Lüge verschönt die Rede)

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