© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  42/14 / 10. Oktober 2014

Die andere, neue Wirklichkeit …
… die angst machen kann: Heinz Buschkowskys offenherzige Analyse einer Welt, in der die „Biodeutschen“ nur noch eine Minderheit sind
Thorsten Hinz

Der Bezirksbürgermeister von Berlin-Neukölln, Heinz Buschkowsky, ist ein Sozialdemokrat alter Schule: ausgestattet mit gesundem Menschenverstand, pragmatisch, warmherzig, verantwortungsbewußt, überzeugt von Recht und Ordnung und Courage zeigend. Sein Bestseller „Neukölln ist überall“ (2012) war eine praxisnahe Bestandsaufnahme der multiethnischen Gesellschaft, die vor seinem Rathaus beginnt.

In seinem aktuellen Buch setzt er die Situationsbeschreibung dieser „anderen Gesellschaft“ fort, richtet den Fokus aber auch auf die absehbaren Folgen für die „biodeutsche“ Lebenswelt. Wieder stützt er sich auf seine Erfahrungen in Neukölln und zahllose Bürgergespräche. Er ist mehr ein Empiriker als Theoretiker und – das macht die Lektüre leicht – ein zupackender Erzähler. Dem Buch hat er ein Motto von Ferdinand Lassalle vorangestellt: „Alle große politische Aktion besteht in dem Aussprechen dessen, was ist, und beginnt damit. Alle politische Kleingeisterei besteht in dem Verschweigen dessen, was ist.“

Einige Fakten: Neukölln hat 322.000 Einwohner, davon besitzen 42 Prozent ausländische Wurzeln. Der Anteil der Zuwandererkinder bei den Erstkläßlern beträgt 67 Prozent – im Durchschnitt. Probleme bereiten die türkischen und mehr noch die arabischen Kinder und Jugendlichen. Sie beherrschen die deutsche Sprache schlecht, viele sind kaum oder gar nicht beschulbar. Ihre berufliche Perspektive beschränkt sich auf den Niedriglohnsektor. 40 Prozent der unter 25jährigen beziehen Hartz IV, in der Neuköllner Innenstadt sogar 70 Prozent. Bei der „übergroßen Mehrheit“ der Migrationshintergründlern seien Sozialleistungen das „Standardeinkommen“. Wer fünf oder acht Kinder in die Welt setzt, bekommt dadurch mehr Geld in die Tasche, als er mit einfacher Arbeit verdienen kann. Hier gilt: „Deutschland, schönes Land, bekommst Geld, mußt nichts tun.“

Jedenfalls nicht in regulären Arbeitsverhältnissen. In den ethnisch abgeschlossenen Räumen existiert eine beträchtliche Schattenwirtschaft, die von den Behörden nicht einzusehen ist und Möglichkeiten für großangelegten Sozialbetrug eröffnet. Der Vergleich der türkischen und arabischen mit der deutschen Unterschicht stimmt nur bedingt. Die deutsche ist unstrukturiert und verwahrlost, in den muslimischen hingegen existieren straffe Hierarchien, Strukturen und Normen, die allerdings mit rechtsstaatlichen Prinzipien kollidieren. Ein ranghoher Vertreter der Jesiden erklärte nach einem Ehrenmord klipp und klar: „Wir werden unsere Religion nicht aufgeben.“ Im Zweifelsfall steht sie über dem Gesetz!

Ein anderes Beispiel: Ein junger Mann wurde durch eigenes Verschulden von einem Auto überfahren. Der Fahrer war nach deutschem Recht schuldlos, doch ein Ehrengericht war der Ansicht, daß er der Familie des Toten 50.000 Euro schulde. Der Vorgang spielte sich innerhalb der muslimischen Gemeinschaft ab. Doch sollte die islamische Gerichtsbarkeit sich auch gegen Deutsche richten, könnte der Staat ihnen kaum helfen. Lehrer und Behördenmitarbeiter sind eingeschüchtert, Polizei und Justiz weichen immer mehr zurück. Im Frühjahr 2014 nahm Buschkowsky an einer Tagung über organisierte Kriminalität teil, die weitgehend in der Hand libanesischer Großfamilien liegt. Kommt es zufällig zur Anklage, bieten sie die teuersten Anwälte auf. Die milden Urteile gegen ausländische Straftäter sind keine Zufälle. „Die Bedrohung und Erpreßbarkeit von Richtern ist Realität, anders wären verschiedene Verhaltensweisen und Urteile nicht zu begreifen ...“

Über die Islamkonferenz oder den Zentralrat der Muslime kann Buschkowsky nur bitter lachen. Die bekannte Islamwissenschaftlerin Necla Kelek diktierte ihm: „Konservativ-nationalistisch islamorientierte Verbandsvertreter soufflieren den Behörden die Texte und setzen so ihre Politik durch. Das möchte ich wortwörtlich geschrieben sehen.“

Die Problemgruppen wiederum sind keine monolithischen Blöcke. Es gibt in ihnen Aufsteiger, Überflieger, soliden Durchschnitt und bestens integrierte Familien, die gar nicht religiös sind, die ihre Religiosität in säkularen Formen leben und sich „lieber eine Deutsche als eine Sunnitin“ zur Schwiegertochter wünschen. Doch sie stehen unter dem Druck der Traditionalisten und ziehen aus Neukölln weg.

Trotz allem mag Buschkowsky seinen Kiez. Sein Panorama der multiethnischen Wirklichkeit Neuköllns hat eine fast sinnliche Qualität. Das ist die Stärke des Buches. Es ist schwächer, wenn der Autor zu theoretisieren versucht („Warum sind wir so machtlos?“) oder Therapievorschläge unterbreitet. Es ist rührend, wenn er das Modell der „Stadtteilmütter“ als „Exportschlager“ anpreist. Gemeint sind „wissensferne Einwandererfrauen“, die in kommunalen Kursen „Alltagskompetenz“ erwerben und anschließend zu anderen „wissensfernen“ Zuwandererfamilien geschickt werden, um ihnen ebenfalls Kompetenzen zu vermitteln. Buschkowsky tritt vehement für die Kindergartenpflicht und für Ganztagsschulen ein, damit die Kinder neben Sprachkenntnissen kognitive und motorische Fähigkeiten erwerben. Das ist einerseits plausibel, würde aber bedeuten, daß der Staat in die Elternautonomie auch der verantwortungsbewußten Mittelschichten eingreift und deren Kinder instrumentalisiert, um seine verfehlte Politik zu sanieren.

Vor allem wäre das ein Herumdoktern an Oberflächenphänomenen. In Neukölln fließen lokale, nationale und globale Tendenzen zu einer anderen, neuen Wirklichkeit zusammen, die Angst machen kann. Buschkowskys Buch bietet reichlich Anschauungsmaterial, um sich ihr auch analytisch anzunähern.

Heinz Buschkowsky: Die andere Gesellschaft.Ullstein Buchverlag, Berlin 2014, gebunden, 302 Seiten, 19,99 Euro

Foto: Gestade: Ei luulo ole tiedon väärtti (Glauben ist nicht Wissen)

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