© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  42/14 / 10. Oktober 2014

Über die Alltäglichkeit des Verstellens
Roland Jahn, Leiter der Stasi- Unterlagenbehörde, über das Leben zwischen Anpassen und Widersprechen in der Diktatur, als welche er die DDR kennengelernt hatte
Jan von Flocken

Die wichtigste Passage findet sich schon auf Seite 11: „Niemand will ein Anpasser sein. Und doch haben wir es alle getan. Und tun es noch. Damals und heute.“ Was ein wenig bitter klingt, nichtsdestoweniger Zustimmung heischt.

Das angepaßte Verhalten vieler DDR-Bürger – Roland Jahn zeigt dafür in vieler Hinsicht Verständnis, ja nachgerade Altersmilde. Er sonnt sich keineswegs in der Rolle des Dissidenten. Der heutige Leiter der Stasi-Unterlagenbehörde saß 1982/83 im Gefängnis eben dieses MfS. Das weitverbreitete Täter-Opfer-Schema lehnt er ab. „Es gibt viele Formen der Anpassung, von Schweigen bis Anbiederung“, konstatiert der Autor. Und es war schwer, dieses ständige Einüben, um alle Zumutungen einer totalitären Ideologie zu ertragen. Gib dem Staat, was er unbedingt will und halte dich ansonsten raus, so lautete der Rat, den besorgte Eltern ihren Kindern erteilten, quasi als Kompaß, um sie sicher durch den „real existierenden Sozialismus“ zu navigieren.

Die „Alltäglichkeit des Verstellens“, sei es im Privatleben, in der Schule oder am Arbeitsplatz, produzierte 40 Jahre lang ein sich selbst entschuldigendes, selbst beruhigendes Mitläufertum und das nicht nur zur alljährlichen Parade am 7. Oktober. Hinzu kam ein diffuses Grundgefühl, daß etwas Übles passieren kann, wenn man sich nicht an die Regeln hält. Oder auch nicht. Mit wild klopfendem Herzen wagte Roland Jahn sich nebst einem selbstgefertigten Plakat Ende der siebziger Jahre zur Mai-Demonstration. Auf diesem Plakat stand kein einziges Wort, es blieb vielsagend weiß als Zeichen für die Mißachtung der Meinungsfreiheit. Erstaunlicherweise interessierte das niemanden, auch nicht die Staatsmacht. Manche lachten über die Geste.

Mehrfach weist Jahn darauf hin, das Leben in der DDR habe sich nicht jeden Tag so angefühlt, als lebe man in einer Diktatur. Es existierten durchaus Freiräume, die es auszuloten galt. Für einige DDR-Untertanen war jedoch der Spagat zwischen Anpassen und Widersprechen nicht zu bewältigen. Im Buch wird anhand persönlicher Erfahrungen der Bogen gespannt vom Eintakten, Schweigen, Gewöhnen, Mitlaufen, Unterordnen und Mitmachen bis zum gefährlichen Angstüberwinden und Widersprechen. Der aus Jena stammende Autor selbst geriet in die Mühle der Unterdrückung, wurde verhaftet und abgeschoben. Da wirkt es überzeugend, wenn Jahn verkündet: „Heute moralische Bewertungen an das Verhalten von damals anzulegen und pauschal zu verurteilen, wird dem Leben in der Diktatur nicht gerecht.“ Denn die zahlreichen Zwangssituationen einer Diktatur sind eine große Herausforderung an Aufrichtigkeit, Anstand und Selbstbewußtsein von Menschen. Man kann die Bürger nicht in Haftung dafür nehmen, daß sie in der DDR ihr Leben gelebt haben, daß sie oft nicht mutig genug waren, die Zumutungen von Staat und Partei abzulehnen.

Manches in dem Bekenntnisbuch scheint höchst gegenwärtig und macht nachdenklich. Wenn es in einer Diktatur wie der DDR zahlreiche von oben verordnete Sprachregelungen und -tabus gab, versteht sich das von selbst.

Bestürzender ist dieses Phänomen in einer Gesellschaft, die sich als Demokratie versteht. Wie kommt es etwa, daß der Begriff Ausländer dem deutschen Sprach- und Schriftgebrauch vollständig abhanden gekommen ist und unisono durch das angehängte Wortungetüm „Migrationshintergrund“ verdrängt wird; daß klassische Kinderbücher umgeschrieben werden müssen, weil in ihnen Neger, Zigeuner oder Hexen vorkommen, daß nahezu alle Medien nur noch politisch korrektes grün-rotes Neusprech absondern? Wer sitzt hier am langen Hebel, wo doch Stasi und Politbüro längst verschwunden sind? Vielleicht könnte Jahn, der beide Systeme erlebt und analysiert hat, zu diesem Thema ein weiteres Buch verfassen.

Roland Jahn: Wir Angepaßten. Überleben in der DDR. Piper Verlag, München 2014, gebunden, 190 Seiten, 19,99 Euro

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