© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  43/14 / 17. Oktober 2014

Ein einziger verlustreicher Rückzug
Maos verklärter „Langer Marsch“ war ein militärisches Desaster / Äußere Umstände ließen die Kommunisten in China mächtig werden
Wolfgang Kaufmann

Im Frühjahr 1934 standen die chinesischen Kommunisten mit dem Rücken zur Wand, denn die Truppen der regierenden Nationalisten (Kuomintang) berannten ihre Hauptbasis in der südöstlichen Provinz Jiangxi nun bereits zum fünften Male – und diesmal schienen sie sich auch auf der Siegerstraße zu befinden. Zum einen konnte ihr Führer Chiang Kai-shek nämlich jetzt eine zehnfache Übermacht aufbieten, zum anderen genoß die sogenannte „Chinesische Sowjetrepublik“ in Jiangxi kaum noch Rückhalt bei der Bevölkerung der Region. Schuld hieran waren der ständige Terror und die brutalen Zwangsrekrutierungen für die Rote Armee.

Daher beschlossen Zhou Enlai und Bo Gu, also der oberste Kommissar der Roten Armee und der Generalsekretär der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh), in Abstimmung mit Stalins Abgesandtem Otto Braun, Jiangxi aufzugeben und mit der 1. Roten Armee sowie der kompletten „Sowjetregierung“ nach Westen zu ziehen, um der drohenden Einkreisung durch die Kuomintang zu entkommen. Unter den 105.000 Männern und 35 Frauen, welche am 16. Oktober 1934 unter größter Geheimhaltung in Ruijin abmarschierten, war auch Mao Tse-tung, der inzwischen weitgehend machtlose Vorsitzende des Volkskomitees des Jiangxi-Sowjets.

Zehntausende Kämpfer der Roten desertierten

Ebenso setzten sich die etwa 100.000 Soldaten der 2. und 4. Roten Armee unter He Long beziehungsweise Zhang Guotao in Zentralchina in Marsch, um sich mit der 1. Armee zu vereinigen. Diese verlor dann allerdings schon bis zum 3. Dezember 56.000 Kämpfer, wobei 30.000 davon desertierten. Die anderen wurden Opfer ihrer rudimentären Ausbildung und des gravierenden Munitionsmangels. Oft mußten die Soldaten der Roten Armee mit nur drei Patronen pro Mann in die Gefechte gegen die wohlausgerüsteten Kuomintang ziehen, welche sich ihnen immer wieder in den Weg stellten.

Daß die 1. Rote Armee in dieser extrem verlustreichen Startphase des Langen Marsches nicht gleich komplett aufgerieben wurde, lag zum einen am rücksichtslosen Vorgehen gegenüber der lokalen Bevölkerung und zum anderen an der Haltung der Warlords von Guangdong und Guangxi. Diese hatten Chiang zwar zugesagt, sich am Kampf gegen die Kommunisten zu beteiligen, ließen sie aber dennoch ungeschoren durch ihre Machtbereiche ziehen, um die Kuomintang so weit als möglich fernzuhalten.

Im Januar 1935 erreichte die 1. Armee dann die Kleinstadt Zunyi, wo eine Parteikonferenz abgehalten wurde, deren Zweck darin bestand, die Fehler während des bisherigen Marsches zu analysieren. Bei dieser Gelegenheit avancierte Mao zum Mitglied des Politbüros der KPCh und zur rechten Hand des Oberkommandierenden Zhou Enlai. Allerdings konnte auch der neue Stern am Parteihimmel nicht verhindern, daß die 1. Armee bald weitere schwere Niederlagen erlitt, durch die ihr Personalbestand auf 10.000 Mann absank.

Dennoch aber gelang es der 1. und 4. Armee, am 12. Juni 1935 in Sichuan zusammenzutreffen. Dabei kam es sofort zu Rivalitäten zwischen Mao und Zhang Guotao, der noch über 80.000 Mann verfügte. Infolgedessen setzte sich Mao am 9. September mit 8.000 Getreuen von der Hauptkolonne ab und eilte durch die Hochebenen Osttibets nach Norden. Dabei und während der nachfolgenden Passage der 4. und 2. Armee – wurde das bettelarme Land aufs äußerste ausgeplündert, was die Tibeter zu erbittertem Widerstand animierte, der zu weiteren Verlusten führte.

Am 19. Oktober 1935 erreichte die 1. Armee, welche nun gerade noch 4.000 Mann umfaßte, die Ortschaft Wuqi und damit das Gebiet der kleinen kommunistischen Basis in der nordchinesischen Provinz Shaanxi. Auf dem Wege dahin hatte sie 12.500 Kilometer zurückgelegt und 18 Bergketten beziehungsweise 24 Flüsse überschritten sowie 12 Provinzen durchquert – was durchaus beachtlich ist, aber nichts daran ändert, daß das Unternehmen nur ein verzweifelter Rückzug gewesen war. Trotzdem jedoch hielt Mao im Dezember 1935 eine bombastische Rede vor seinen Gefolgsleuten, welche in den Worten gipfelte: „Der Lange Marsch ist ein Manifest, das der ganzen Welt verkündet hat, daß die Rote Armee aus Helden besteht.“

Dabei steckten die 2. und 4. Armee zu diesem Zeitpunkt noch im tibetischen Grasland fest, weshalb es erst geschlagene zehn Monate später zur endgültigen Vereinigung aller drei Kontingente kam. Danach begann der Kampf um die Provinz Ningxia, dessen Ziel darin bestand, einen Korridor in Richtung der Äußeren Mongolei zu öffnen, durch den die dringendst benötigten Hilfslieferungen der Sowjetunion rollen sollten. Doch genau das mißlang, wobei Mao dafür sorgte, daß vor allem die 4. Armee seines Intimfeindes Zhang Guotao verschlissen wurde, welche bisher nur die Hälfte ihres Personalbestandes verloren hatte. Daraufhin beschloß das Politbüro der KPCh am 13. November 1936 eine Fortsetzung des Langen Marsches nach Osten oder wieder zurück nach Süden.

Drohende Invasion Japans setzte Bürgerkrieg aus

In dieser erneut reichlich ausweglosen Situation putschte Chiang Kai-sheks Gefolgsmann Zhang Xueliang, der heimliche Sympathien für die Kommunisten und Stalin hegte: Er nahm den Kuomintang-Führer am 12. Dezember 1936 in einer Nacht-und-Nebel-Aktion in Haft, wonach es zu Verhandlungen zwischen den beiden chinesischen Kriegsparteien kam, die am 25. Dezember mit dem Ergebnis endeten, daß die Kuomintang den Nordwesten des Landes räumen und den Kommunisten zur Verwaltung überlassen mußte. Grund für diesen Kompromiß war der Einigungsdruck aufgrund der Angst vor einer japanischen Invasion, welche dann tatsächlich auch wenige Monate später stattfand. Damit war die Shaanxi-Basis gerettet und das endgültige Ende des Langen Marsches besiegelt.

Zugleich kam es zu einer Entfremdung zwischen der KPCh und der sowjetischen Führung, weil der Kreml nun immer stärkere Kritik an den Entscheidungen der chinesischen Genossen übte, die wiederum den Komintern-Aufpasser Braun für all ihre Niederlagen verantwortlich machten. Damit wurde der Grundstein für die spätere Feindschaft zwischen Peking und Moskau gelegt, welche die kommunistische Weltbewegung spaltete und dem Westen in die Hände spielte.

Foto: Mao Tse-tung während des „Langen Marsches“ 1934: So weit weg vom Feind wie möglich

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