© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  43/14 / 17. Oktober 2014

Der Flaneur
Es ist alles mitzunehmen
Paul Leonhard

Warten ist angesagt. Die S-Bahn hat Verspätung. 15 Minuten verkündet eine Lautsprecherstimme. Später erhöht sie auf zwanzig. Unpünktlichkeit ist heutzutage Alltag. Aber die Bahnen fahren wenigstens. Noch, denn in der Zeitung, die die Zeit überbrücken soll, kündigt der Lokführergewerkschaftsführer gerade an, daß man „durchstreiken“ wolle. Bis zum Ende. Wie die Piloten der „Bodenhansa“, denke ich.

Der Lautsprecher meldet sich erneut. Die S-Bahn fahre demnächst ein, allerdings nicht hier, sondern auf der anderen Seite des Bahnsteigs. Reisende hasten die Treppe herab und später eine andere wieder hinauf.

„Wenn die anderen zu viel Geld haben.“ Büchse und Flasche verschwinden bei der Frau.

Alles schnauft. Keiner schimpft. Der Zug rollt schon wieder. Mir schräg gegenüber sitzt ein älteres Ehepaar. Er mit amerikanischer Schirmmütze. Gelb leuchtet das Wort „Deutschland“ auf schwarzem Untergrund. Von der Frau erkenne ich nur die weißblonden Haare.

„Das nehmen wir mit, das sind immerhin 50 Cent“, höre ich ihn. Ich weiß sofort, was er meint: die kleine, noch zu einem Drittel volle Limoflasche und die Bierbüchse, die auf dem Abstelltischchen stehen. „Richtig“, bestätigt die Frau. „Wenn die anderen zu viel Geld haben“, sagt der Mann. Büchse und Flasche verschwinden in der Handtasche der Frau.

Ich denke über die 50 Cent nach. Hätte ich Büchse und Flasche auch eingesteckt? Als ausgleichende Gerechtigkeit angesichts der steigenden Fahrpreise? Ich beginne mich über mich selbst zu ärgern. Wer hatte gerade noch überlegt, 3.000 Euro in Genußscheine eines Gojibeeren-Produzenten zu investieren? Immerhin wurden eine Verzinsung von vier Prozent, zehn Prozent Rabatt auf alle Produkte im Hofladen sowie 30 Prozent auf Gojipflanzen versprochen. Was sind eigentlich Gojiplanzen?

Der Lautsprecher scheppert. Ich muß aussteigen. Auf dem Bahnsteig fällt mein Blick prompt auf drei leere Bierflaschen. Die stehen aufgereiht auf der Bank und scheinen mir zuzurufen: Nimm uns mit. Ich widerstehe tapfer.

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen