© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  44/14 / 24. Oktober 2014

„Weltweiter Dschihad“
Welche Gefahr geht vom Islamischen Staat tatsächlich aus? Kann er überhaupt besiegt werden? Der US-Experte und Ex-Diplomat James Dobbins gibt Antwort
Moritz Schwarz

Herr Dobbins, die US-Regierung nennt den Islamischen Staat eine „existentielle Bedrohung“. Betrachtet sie ihn tatsächlich als die neue al-Qaida?

Dobbins: Zumindest als die drängendste terroristische Bedrohung, seit wir die Al-Qaida-Führung weitgehend lahmgelegt haben. Der IS expandiert und entwickelt ein erstaunliches Potential, er beansprucht, ein Staat zu sein und verfügt als einzige relevante internationale Terrororganisation über ein eigenes Territorium, eine eigene Bevölkerung und eigene wirtschaftliche Grundlagen. All das unterscheidet ihn von dem, womit wir es bisher zu tun haben, und all das macht ihn ziemlich angsteinflößend.

Warum ist gerade dem IS dieser erstaunliche Aufstieg gelungen und nicht al-Shabab, al-Qaida im Maghreb, Boko Haram oder irgendeiner anderen Terrormiliz?

Dobbins: All diese Gruppen operieren innerhalb bestehender Staaten, von denen sie eingeschränkt und bekämpft werden. Der IS dagegen ist in ein Vakuum gestoßen. Geschaffen durch den syrischen Bürgerkrieg und durch unseren Truppenabzug aus dem Irak.

Das heißt, der Arabische Frühling und die USA haben überhaupt erst ermöglicht, daß der IS entstehen konnte?

Dobbins: Aus der Rückschau erweist es sich in der Tat als Fehler, in Syrien nicht früher interveniert zu haben, als die Opposition noch moderater und weniger islamisiert war. Ebenso war die Invasion des Irak ein Fehler, ja, das räume ich ein. Weder hatte der Irak Massenvernichtungswaffen, noch etwas mit dem 11. September zu tun, und er war auch keine Heimstätte des Terrorismus.

Die USA haben die Entstehung des IS ermöglicht und Sie sprechen nun lediglich von „Fehlern“?

Dobbins: Nochmal: Die Invasion war ein Fehler, aber sie allein ist nicht die Ursache. Vielmehr haben wir danach weitere Fehler gemacht, und diese Kette erst hat zu der heutigen Situation geführt.

Nämlich?

Dobbins: Die USA haben die Probleme beim Wiederaufbau im Irak völlig unterschätzt. Deshalb und obendrein haben sie dem Wiederaufbau auch nicht genug Aufmerksamkeit geschenkt. Und schließlich haben wir 2011 zu früh den Irak verlassen. Wir haben die Augen davor verschlossen, daß wir dort eine polarisierte Gesellschaft zurückgelassen haben, die auf einen Bürgerkrieg zudriftete.

Dreizehn Jahre „Krieg den Terror“, und das Ergebnis ist der Islamische Staat. Sind die USA nicht nur im Irak, sondern auf ganzer Linie gescheitert?

Dobbins: Das finde ich zu grobschlächtig. Manches hat nicht funktioniert, ja, anderes aber schon. Allerdings, die Regierung Obama verwendet den Begriff „Krieg gegen den Terror“ aus guten Gründen nicht. Und natürlich würden ihre Mitglieder Ihnen heute unter der Hand zustimmen, daß die Irak-Invasion ein großer Fehler, ja eine desaströse Entscheidung war. Anders aber sieht es mit Afghanistan aus: zur Notwendigkeit der Invasion dort steht man auch in der Obama-Regierung.

Experten warnten schon damals – in Deutschland etwa Peter Scholl-Latour –, das Irak-Unternehmen werde in einem terroristischen Chaos enden. Warum hat die US-Regierung solche Warnungen ignoriert?

Dobbins: Die Regierung glaubte, der Irak habe chemische Massenvernichtungswaffen und arbeite an atomaren.

Das meinen Sie nicht in Ernst?

Dobbins: Doch, man glaubte daran! Außerdem müssen Sie bedenken, daß die Situation in Afghanistan 2003 sehr viel besser war als heute. Damals gab es noch keinen Taliban-Aufstand und der Westen hatte nur noch wenige Truppen im Land. Es sah aus, als könnte der Frieden dort gelingen. Und so dachte man: Na, dann kann das doch auch im Irak klappen! Was für ein fataler Irrtum. Jetzt haben wir dort den Islamischen Staat!

Wie gefährlich ist dieser tatsächlich? Sind wir in Europa oder den USA wirklich bedroht, wie die IS-Propaganda behauptet?

Dobbins: Wir schätzen den Aktivitätshorizont des IS eher regional ein. Aber auch das ist schon eine erhebliche Bedrohung für unsere Stellung im Mittleren Osten. Wir sehen Gefahr nicht nur für Syrien und Irak, sondern auch für den Libanon und Jordanien. Die Vorstellung, daß diese Staaten auch noch instabil werden, oder daß es gar zu einem Konflikt mit Israel kommt, ist schon beängstigend.

Das heißt, der IS ist für uns eine geopolitische, aber keine direkte Gefahr?

Dobbins: Na ja, denken Sie daran, daß sich Zehntausende Amerikaner und Europäer im Nahen und Mittleren Osten aufhalten. Um einen oder auch Dutzende von uns abzuschlachten, müssen IS-Terroristen nicht erst nach Europa oder Amerika gelangen. Außerdem gibt es noch eine weitere Gefahr: Schon funktionierende Staaten haben Probleme damit, Terrorgruppen einzudämmen. Dennoch können sie diese in hohem Maße einschränken. Ein Problem sind Staaten, die dazu nicht willens oder in der Lage sind und sich mehr oder weniger neutral verhalten, wie etwa Afghanistan oder Pakistan. Sie werden unfreiwillig zu Terrorbrutstätten. Richtig fatal wird es aber, wenn ein Staat den Terror geradezu offen begünstigt! Seit dem Ende der Talibanherrschaft in Afghanistan gibt es keinen solchen Staat mehr – bis jetzt! Wenn sich der IS etabliert, könnte er – selbst wenn er keine eigenen Terroraktionen gegen den Westen unternimmt – zu einer Basis und zum Durchlauferhitzer für den Terror eines weltweiten Dschihad werden, der auch uns treffen kann.

Präsident Obama hat einen Drei-Stufen-Plan zur Bekämpfung des IS verkündet. Wird der funktionieren?

Dobbins: Leider ist die Frage nicht, ob er funktioniert. In so einer komfortablen Situation sind wir gar nicht. Die Frage ist viel bescheidener, nämlich ob irgendwer einen besseren hat. Ich fürchte nicht. Der Plan sieht in der ersten Stufe vor, mittels US-Luftangriffen den Vormarsch des IS zu stoppen. Stufe zwei besteht darin, eine internationale Koalition zur Unterstützung des Iraks zu schmieden, die es dessen Armee erlaubt, den IS zurückzudrängen und die Kontrolle über sein Staatsgebiet zurückzugewinnen. Schließlich, nachdem der IS aus dem Irak vertrieben ist, soll er in Stufe drei auch in Syrien in die Zange genommen werden. Ich glaube, daß Stufe eins und zwei gelingen können. In Kobane sehen wir, daß Stufe eins sogar schon erste Erfolge zeigt. Skeptisch bin ich bezüglich Stufe drei, der syrische Teil ist zweifellos die größte Herausforderung des Plans.

Es ist in elf Jahren nicht gelungen, die irakische Armee schlagkräftig zu machen, warum soll es jetzt plötzlich gelingen?

Dobbins: Falsch! Nur wurde das Erreichte von der Regierung Al-Maliki durch schiitische Patronage wieder kaputtgemacht. Ich hoffe, daß nun der Groschen bei der Regierung gefallen ist.

Selbst wenn es gelingt, den IS zu besiegen, warum sollte die bisher vergebliche Stabilisierung des Irak danach plötzlich klappen?

Dobbins: Zwischen 2007 und 2011 war eine gewisse Stabilisierung bereits erreicht, die wir dann aber durch unseren zu frühen Abzug wieder verspielt haben. Natürlich, wenn es gelingt, dann in anderer Form als vorher: Ein Irak mit geschwächter Zentralgewalt und mit sehr viel mehr Autonomie für Kurden und Sunniten. Und auch das nur, wenn die Mächte dahinter, USA und Iran, ihren Konflikt entschärfen können. Dann sehe ich ein Chance. Allerdings, um ehrlich zu sein, auch nicht mehr als eine Chance.

 

James F. Dobbins, ist Experte für Irak, Afghanistan und den Mittleren Osten der US-Denkfabrik Rand Corporation, deren Abteilung für Internationale und Sicherheitspolitik er zeitweilig leitete. Zuvor diente Dobbins, Jahrgang 1942, als Diplomat den Regierungen Clinton, Bush und Obama unter anderem als Sonderberater des US-Präsidenten, als US-Botschafter bei der Europäischen Union sowie bis Juli 2014 als Sonderbeauftragter der US-Regierung für Afghanistan und Pakistan.

www.rand.org

Foto: Siegreicher IS-Kämpfer im Irak: „Der Islamische Staat unterscheidet sich von allem, womit wir bisher zu tun haben, das macht ihn ziemlich angsteinflößend.“

 

weitere Interview-Partner der JF

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen