© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  44/14 / 24. Oktober 2014

Ideologie-Knüppel aus dem Sack
Rezension: DIW-Chef Marcel Fratzscher analysiert die wirtschaftliche Lage der Nation und übersieht dabei einige bedeutende Fakten
Markus Brandstetter

So viele Menschen wie seit 1973 nicht mehr haben in Deutschland einen Arbeitsplatz, die Wirtschaft brummt, die Exporte florieren, und zum ersten Mal seit Jahrzehnten will der Bund 2015 keine neuen Schulden aufnehmen. Das ist alles kein Vergleich mit Frankreich und Italien, die schon wieder auf dem Weg in die Rezession sind und von ihren Schulden nicht herunterkommen, auch nicht mit den Niederlanden, wo der Immobilienmarkt zusammengebrochen ist und die Konjunktur stagniert, und schon gar nicht mit Spanien, Portugal und Griechenland, wo die Arbeitslosigkeit hoch und das Wachstum niedrig ist und die Banken am Boden liegen.

Überheblich, blind und träge

Aber vielleicht geht es uns gar nicht so gut, wie wir denken. Das zumindest behauptet Marcel Fratzscher in einem neuen Buch mit dem Titel „Die Deutschland-Illusion“. Fratzscher ist nicht irgendwer, sondern Professor für Makroökonomie und Finanzen an der Berliner Humboldt-Universität und Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin). Er schreibt nun, Deutschland unterliege der Illusion, die Zukunft sei wirtschaftlich gesichert, was jedoch keineswegs der Fall sei. Im Gegenteil: Die Deutschen gäben sich selbstgefälligen Illusionen über die Stärke ihrer Wirtschaft hin, was zu einer gefährlichen Euphorie führe, die überheblich, blind und träge mache.

Das klingt nach Abrechnung, aber zuerst einmal beginnt Fratzscher mit Lob. Er sagt: ja, die Reduzierung der Arbeitslosen von fünf Millionen im Jahr 2005 auf unter drei Millionen heute ist ein Riesenerfolg, aber viele der neugeschaffenen Arbeitsplätze sind nur Minijobs, die Leute brauchen trotzdem Sozialhilfe, und die Löhne der restlichen Bevölkerung stagnieren in puncto Kaufkraft seit zehn Jahren. Das ist alles richtig, nur verkennt Fratzscher, daß genau die Hartz-Reformen und die Zurückhaltung bei den Löhnen zwei der Hauptgründe für das Beschäftigungswunder sind. Ihm ist auch nicht klar, daß Computer, Industrieroboter und immer höhere Anforderungen an die Arbeitnehmer notwendigerweise zu einer Zweiklassengesellschaft geführt haben, in der intelligente, fleißige und gut ausgebildete Menschen die anderen deshalb hinter sich lassen, weil es in einer modernen Exportwirtschaft immer weniger Jobs für Geringqualifizierte gibt.

Fratzschers zweiter Angriff richtet sich gegen die hohen Exportüberschüsse der Bundesrepublik. Hier gesteht er zwar ein, daß der deutsche Mittelstand mit seinen hervorragenden Produkten, seiner Flexibilität, seiner internationalen Ausrichtung und seinen guten Ideen es ist, der die Exportüberschüsse erwirtschaftet, aber die Keule kommt gleich hinterher: Nicht die Produktivität und die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen seien der Grund für die sprudelnden Exporte, sondern die niedrigen Löhne. Das müßte erstens bewiesen und nicht nur behauptet werden, und zweitens ist es grottenfalsch.

Gehaltvoller als die Kritik an Arbeitsmarkt und Exportüberschüssen ist Fratzschers Feststellung, daß in Deutschland eine Investitionslücke klafft. Seit 20 Jahren sinken die Investitionen in die Infrastruktur, ein Fünftel der Autobahnen, 40 Prozent aller Bundesstraßen und Brücken sind kaputt. 80 Miliarden Euro müßten hier kurzfristig investiert werden, damit es mit der Wirtschaft zukünftig aufwärts und nicht abwärts geht. Das ist das beste Kapitel des ganzen Buches, hier hat Fratzscher recht, und hier belegt er alles mit harten Zahlen aus dem DIW.

Gleich danach wird jedoch wieder der Ideologie-Knüppel aus dem Sack geholt. Da kritisiert Fratzscher, daß die deutsche Wirtschaft zuwenig im eigenen Land und in den EU-Ländern, insbesondere den Südländern investiere, obwohl doch die deutschen Mittelständler in Italien und Griechenland ideale Partner finden würden. Hier verkennt der Autor vollkommen, daß Investitionen Märkten und Kunden folgen und nicht politischem Wunschdenken. Der deutsche Markt wächst fast nicht mehr, und deshalb investieren BASF, VW, Linde und Merck nicht mehr im eigenen Land, wo ja seit Jahrzehnten große Anlagen stehen, sondern in Asien, wo die Kunden von morgen leben.

Erstaunlich ist nun, welche Schlüsse Fratzscher aus seiner Kritik zieht: Eine stärkere Integration Deutschlands in die EU würde all diese Probleme lösen. Der Autor plädiert für das volle Programm – die Schulden aller EU-Länder müßten vergemeinschaftet, die Bankenunion vollzogen und eine gemeinsame Steuerpolitik eingeführt werden, was im Endeffekt auch auf eine politische Union hinausliefe. Mit den anderen EU-Ländern müsse Deutschland sich solidarisch zeigen, für die EU die Konjunkturlokomotive spielen, weil Deutschland als stärkste Wirtschaftsmacht in der EU für die schwächeren Länder in der Verantwortung sei. Aber all das sei weder ein Opfer für Deutschland, geschweige denn ein Problem, sondern ganz im Gegenteil die Lösung aller wirtschaftlichen Probleme.

Marcel Fratzscher hat in Oxford und Harvard studiert, auf der ganzen Welt gearbeitet, er kann denken, argumentieren und schreiben. So jemand hätte eigentlich keinen Grund, volkswirtschaftlich stringente Analyse und Argumentation durch politisches Wunschdenken zu ersetzen.

Marcel Fratzscher: Die Deutschland-Illusion. Carl Hanser Verlag, gebunden, München 2014, 278 Seiten, 19,90 Euro.

Foto: Deutsche Infrastruktur: Jahrelang wurden die deutschen Straßen, Brücken, Gleise etc. nur unzureichend gepflegt, jetzt kommt die Quittung

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen