© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  44/14 / 24. Oktober 2014

Islam hier, Islamismus dort – ist das dasselbe?
Was wir unterscheiden sollten
Hamed Abdel-Samad

Auch ich gehörte früher zu denjenigen, die auf einer scharfen Trennung zwischen Islam und Islamismus beharrten. Ich dachte, diese Unterscheidung würde normale Muslime vor einem Generalverdacht schützen. Doch irgendwann wurde mir klar, daß diese Unterscheidung nur Islamisten in die Hände spielt, genauso wie die Begriffe „Islamophobie“ und „moderater Islam“. Denn solange man nur die eine Form des Islamismus verurteilt und den Islam als Religion des Friedens bezeichnet, öffnet man die Hintertür für den politischen Islam. Denn die Idee an sich ist gut, sie muß nur richtig umgesetzt werden. Eine Unterscheidung zwischen Islam einerseits und Muslimen andererseits halte ich für viel sinnvoller.

Selbstverständlich hat der Islam mehrere Prägungen und Strömungen. Klar leben die Sufis im Senegal den Islam anders aus als die Bauern in Malaysia. Schiiten im Iran und Bahrain sind nicht mit Sunniten aus Bangladesch und Pakistan zu verwechseln. Solche Unterschiede sind vielleicht für Ethnologen, Theologen und Kulturwissenschaftler interessant, doch politisch gesehen sind sie ziemlich irrelevant. Aus politischer Sicht ist nicht wichtig, was Muslime weltweit unterscheidet, sondern das was sie verbindet, und das ist der Islamismus, der Traum vom Kalifat und die Gesetze der Scharia. Ob das schiitische Mullah-Regime im Iran oder die sunnitische Provinz Banda Aceh in Indonesien, ob in Mali oder im Gaza-Streifen, in Karatschi oder in Casablanca: der politische Islam überwindet alle ethnischen und kulturellen Differenzen. Alle, die sich auf den politischen Islam berufen, teilen das gleiche Welt-, Gesellschafts- und Menschenbild, wollen die Gesellschaft uniformieren, die Gesetze Allahs notfalls mit Gewalt vollstrecken.

Der Islam hat eine spirituelle Seite und eine Soziallehre, die durchaus angenehm sind und Menschen Trost und Halt spenden, doch der Islamismus bleibt das stärkste Angebot des Islam, denn in diesem Angebot liegt die Existenzberechtigung dieser Religion. Darin liegt ein heiliges Versprechen.

Der Islam hat einen Geburtsfehler. Er ist sehr früh in seiner Geschichte politisch erfolgreich geworden und hat bereits zu Lebzeiten des Propheten Mohammed einen Staat gegründet. Das hat keine andere Religion geschafft. Der Islam ist von Anfang an politisch geworden. Anders als Jesus war Mohammed nicht nur ein Prediger, sondern auch Staatsoberhaupt, Feldherr, Finanzminister, Gesetzgeber, Richter und Polizist in einer Person. Politik, Wirtschaft, Kriege und Gewalt vermischten sich somit mit der Religion von Anfang an. So wurde alles sakralisiert. Das ist das Ur-Problem. Nicht einzelne Passagen.

Es gibt im Koran 25 direkte Tötungsbefehle, die Allah an die Gläubigen ausspricht. Warum behauptet man, der IS würde den Koran falsch interpretieren? Die Gotteskrieger interpretieren gar nichts. Sie setzen nur das um, was im Koran unmißverständlich steht.

Das Problem ist nicht, was im Koran steht, sondern wie die Mehrzahl der Muslime heute zum Koran steht, nämlich als dem unverfälschten, direkten Wort Gottes, das für alle Zeiten Geltung hat. Das Problem ist nicht, was Mohammed vor 1.400 Jahren getan oder gesagt hat, sondern daß viele Muslime ihn heute als Vorbild für ihr Handeln im 21. Jahrhundert sehen.

In der Biographie von Mohammed lesen wir, daß er allein in den letzten acht Jahren seines Lebens 70 bis 90 Kriege geführt habe. Das bedeutet einen Krieg jeden Monat. Er machte Arabien christen- und judenrein und setzte den Islam mit dem Schwert durch. 400 bis 900 wehrlose Juden ließ er an einem Tag enthaupten. Nach heutigen Maßstäben ist das ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

Wer zwischen Islam und Islamismus unterscheiden will, muß entweder Mohammed verurteilen oder zumindest zugeben, daß so ein Mensch keine Berechtigung hat, als Vorbild für moderne Menschen zu dienen. Die zeitlose Unantastbarkeit des Korans und des Propheten sind das Grundproblem des Islams. Wer darauf beharrt, ist ein Islamist, auch wenn er sich von den Greueltaten der IS-Kämpfer distanziert.

Was ist dann Islamismus? Wo beginnt und wo endet er? Sind IS, Boko Haram und al-Qaida Islamisten, Hamas, die Muslimbrüder und die AKP in der Türkei aber nicht? Streben alle diese Gruppen nach etwas anderem als nach dem, wonach Mohammed und die erste Generation der Muslime strebten? Es waren Mohammed und seine Gefährten, die damals die Welt in Gläubige und Ungläubige unterteilten. Sie waren es gewesen, die das Prinzip des Dschihad als eine Dauerbeschäftigung der Muslime erfanden. Sie eroberten Territorien, stellten Christen und Juden vor die Wahl, entweder zu konvertieren, „Dschiziya“, also Kopfsteuer zu bezahlen, oder getötet zu werden. Frauen und Kinder der besiegten Armeen wurden versklavt. Wer das heute tut, ist ein radikaler militanter Islamist. Damals hieß es einfach nur Islam.

Ich würde eine Unterscheidung zwischen Islam und Islamismus befürworten, wenn Mohammed ein Pazifist gewesen wäre, keine Kriege geführt und keine Menschen aus ihren Wohnstätten vertrieben hätte. Ich würde zustimmen, daß der IS den Koran mißbrauche, wenn im Koran stünde „Liebet eure Feinde“ oder „Wer von euch ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein“. Aber warum redet man vom Mißbrauch, wenn es tatsächlich 206 Passagen im Koran gibt, die Gewalt und Kriege verherrlichen? Es gibt im Koran 25 direkte Tötungsbefehle, die Allah an die Gläubigen ausspricht: „Tötet sie“, „enthauptet sie“ usw. Warum behauptet man, der IS würde den Koran falsch interpretieren? Die Gotteskrieger interpretieren gar nichts. Sie setzen nur das um, was im Koran unmißverständlich steht.

Koran-Exegese brauchen Leute, die aus diesem Dilemma heraus und sich mit der Moderne versöhnen wollen. Menschen, denen es peinlich ist, daß ihr heiliges Buch solche Begeisterung für die Gewalt aufweist. Sie müssen die Aussagen des Koran kontextualisieren und auf das 7. Jahrhundert begrenzen. Aber was ist daran moderat zu sagen, der Islam war damals gewalttätig, aber nur in einem bestimmten Kontext?

Andere relativieren diese Kontextualisierung wieder, solange es um friedfertige Passagen im Koran geht. Aber auch die Friedenspassagen sind nur im historischen Kontext zu verstehen und machen den Islam noch lange nicht zu einer Friedensreligion. Die Tatsache, daß die Interpretation dieser friedlichen Theologen brauchbarer ist und uns sympathischer erscheint, macht sie nicht automatisch richtiger als die Lesart der Salafisten.

Wer ist also ein Islamist? Nur ein Kämpfer, der eine schwarze Fahne schwenkt und Menschen köpft? Oder ist es jeder, der die Gesetze des Islam über das weltliche Gesetz stellt? Für mich ist ein muslimischer Vater, der seiner Tochter verbietet, am Schwimm-unterricht teilzunehmen, ein Islamist; eine Mutter, die ihre Kinder davor warnt, sich mit den Deutschen zu befreunden, weil sie Schweinefleisch essen, Alkohol trinken und Unzucht betreiben und somit unrein seien, eine Islamistin. Islamverbände, die Einfluß auf Islamunterricht nehmen, Islamic Banking betreiben, gegen den Gaza-Krieg Demonstrationen mobilisieren, aber zögern, gegen IS vorzugehen, gelten für mich ebenfalls als Islamisten. Auch jeder, der behauptet, Scharia und Demokratie seien miteinander vereinbar, ist ein Islamist, denn er versucht die Demokratie als trojanisches Pferd für den Islam zu benutzen.

Deutsche Islamwissenschaftler und Nahostexperten beschreiben den Islam als friedlich, bis er durch Kolonialismus, Identitätskrisen und soziales Elend radikalisiert wurde. Sie negieren, daß der Islamismus eine aktive Bewegung ist, die tiefe Wurzeln in der islamischen Geschichte hat. Als Europa im 18. Jahrhundert die Aufklärung erlebte, entstand in der arabischen Welt zeitgleich der Wahabismus, eine der radikalsten Formen des Islam, lange bevor es den Kolonialismus gab. Nach Ende des Ersten Weltkrieges haderten die Verlierernationen Europas mit ihrer Identität. Genauso wie die islamische Welt nach der Zerschlagung des Kalifats und dem Zerfall des Osmanischen Reiches. Wie Deutschland unter Hitler von der Wiederherstellung des Römischen Reiches träumte, träumen die Islamisten von der Wiedererrichtung ihrer Herrschaft. Also kann man den Islamismus als die Existenzberechtigung oder die Sehnsucht des Islam nach seinem eigenen Geburtsfehler sehen.

Erst wenn sich der Islam von diesem Geburtsfehler löst, kann eine Unterscheidung zwischen Islam und Islamismus erfolgen. Erst müssen sich Muslime von der juristisch-politischen Seite des Islam lösen, denn diese Seite trägt faschistoide Züge. Solange der Islam davon ausgeht, daß Gott der Gesetzgeber ist und seine Gesetze nicht verhandelbar und veränderbar sind, bleibt er mit dem Islamismus identisch. Das Christentum und Judentum in Europa haben auch keine Demokratien gestaltet. Sie mußten politisch entmachtet werden, bevor sie unter dem Dach der Demokratie leben konnten. Man kann den Islam politisch entmachten und trotzdem Muslim bleiben.

Eine scharfe Trennung zwischen Islam und Islamismus kann es nur geben, wenn Muslime sich vom islamischen Gottesbild lösen, einen Gott, der die Menschen fernsteuert und sie 24 Stunden am Tag überwacht. Ein eifersüchtiger, wütender Gott, der Menschen für kleine Delikte mit der Höllenqual bestraft, aber selber nicht in Frage gestellt werden darf. Erst wenn die Kernbotschaft des Islam relativiert wird, kann es zu einer Differenzierung kommen. Diese Kernbotschaft lautet: Die Menschen sind erschaffen worden, um Gott zu dienen und seine Gesetze auf Erden zu vollstrecken.

Natürlich gibt es einen Unterschied zwischen einem Menschen in Syrien, der „Ungläubigen“ den Kopf abschneidet, und einem Vater in Duisburg, der seine Tochter zwingt, ein Kopftuch zu tragen. Aber beider Motiv ist es, sich Gottes Willen zu beugen.

Natürlich gibt es einen wesentlichen Unterschied zwischen einem Menschen im Irak oder in Syrien, der „Ungläubigen“ den Kopf abschneidet und einem Vater in Duisburg, der seine Tochter zwingt, ein Kopftuch zu tragen. Aber beide handeln aus dem Motiv heraus, sich Gottes Willen zu beugen. Und ich habe als Mensch keine andere Wahl, als Gottes Willen zu vollstrecken, und da liegt das Problem. Sich Gottes Willen zu beugen heißt auf arabisch „Islam“, nicht „Islamismus“.

Der Islam, nicht nur der Islamismus, hat den Anspruch, das Leben eines Muslims zu regulieren, von dem Moment an, wo er aufwacht bis hin zum Moment, wo er zu Bett geht. Ein Islam, der sich vom Islamismus absetzen will, muß zuerst auf den Dschihad, auf die Scharia, auf Geschlechterapartheid und die Durchregulierung des Alltags verzichten. Nun stellt sich die Frage, was bleibt dann vom authentischen Islam übrig?

Was wir auseinanderhalten sollten, sind Islam und Muslime. Nicht jeder Muslim ist ein Koran auf zwei Beinen. Nicht jeder hält sich an alle Rituale und moralischen Vorstellungen des Islam. Die meisten Muslime sind keine Moscheebesucher. Es wäre deshalb falsch, allen Muslimen weltweit die gleichen Eigenschaften zuzuschreiben. Es wäre falsch, sie für die Untaten anderer verantwortlich zu machen. Alle Muslime vor den Kopf zu stoßen wäre ein fataler Fehler und ein Verlust. Statt dessen sollten wir denjenigen von ihnen helfen, die die Religion zur Privatsache machen wollen.

Mehr Unterstützung brauchen Muslime, die sich von den verrosteten religiösen Strukturen und sozialer Kontrolle gänzlich emanzipieren wollen. Um den Islam politisch zu entmachten, brauchen wir die Hilfe der Muslime selbst, sonst ist alles verlorene Mühe. Schließlich geht es nicht nur um die Themen Radikalisierung und Integration. Es geht um die Zukunft Deutschlands insgesamt.

 

Hamed Abdel-Samad, Jahrgang 1972, ist Politologe und Publizist. Zuletzt erschien sein Buch „Der islamische Faschismus“ (Droe­mer-Verlag), dessen Thesen ihm eine Todes-Fatwa einbrachten. Er zählt zu den profiliertesten Islamkritikern im deutschsprachigen Raum.

Foto: Muslimisches Freitagsgebet in Medina: Der Geburtsfehler des Islam ist die Verquickung mit der Politik

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