© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  44/14 / 24. Oktober 2014

Herrscher der nahen Gestade
Der Seekrieg 1914–1918, Teil 1: Die deutsche Hochseeflotte stellte in der Nordsee eine Gefahr und in der Ostsee eine Macht dar
Rolf Bürgel

Der Krieg, der im August 1914 begann, war nicht nur ein Landkrieg, sondern durch den Kriegseintritt der See- und Weltmacht England und später der USA auch ein Seekrieg. Dieses Kapitel des Ersten Weltkriegs wird in der historischen Literatur meist nur am Rande behandelt. Welche Rolle haben Großbritannien und der Seekrieg für Verlauf und Ausgang des Ersten Weltkriegs gespielt?

Es waren zwei ungleiche Gegner, die 1914 aufeinanderstießen. Auf der einen Seite das Deutsche Reich, die stärkste europäische Kontinentalmacht, die aber noch nie einen Seekrieg geführt hatte. Auf der anderen Seite England, dessen politische, wirtschaftliche und militärische Macht sich seit Jahrhunderten beinahe ausschließlich auf die Flotte gründete.

Die Kaiserliche Marine verfügte bei Kriegsbeginn zwar über die zweitstärkste Schlachtflotte der Welt nach der Royal Navy, die einzige Flotte außer der britischen, die „wirklich etwas taugte“, wie sich Winston Churchill einmal geäußert hat. Was ihr aber fehlte, war eine dem Schlieffen-Plan des Heeres vergleichbare Strategie für ihren Einsatz im Krieg. Doch wie hätte diese aussehen sollen?

Das Ziel in einem Seekrieg ist –neben dem Schutz der eigenen Küste vor einer Invasion – die Kontrolle über die Seehandelsstraßen mit dem Ziel, sie dem eigenen Handel offenzuhalten, dem gegnerischen aber zu versperren. Dieses Ziel konnte am sichersten durch die Vernichtung der feindlichen Flotte erreicht werden. So ging die deutsche Marineführung davon aus, daß die britische Flotte sofort nach Kriegsbeginn eine enge Blockade der deutschen Nordseeküste und ihrer Häfen verhängen würde mit dem Ziel, die deutsche Hochseeflotte zur Schlacht zu stellen.

Doch in der Nordsee liefen keine Seehandelsstraßen, um die beide Seiten hätten kämpfen müssen. Die deutschen wie die britischen Seehandelsstraßen verliefen sämtlich im Atlantik, zu denen Deutschland durch die geographische Lage der Britischen Inseln der Zugang verwehrt war, deren Zugänge im Norden zwischen Orkney- und Shetlandinseln und Norwegen und erst recht im Süden am Ärmelkanal durch die überlegene britische Flotte leicht zu sperren waren. Aus dieser Position konnte die deutsche Flotte weder die eigenen Überseeverbindungen schützen noch die gegnerischen bedrohen. So bestand für die britische Flotte keine strategische Notwendigkeit zur Schlacht, die trotz ihrer numerischen Überlegenheit nicht ohne Risiko war.

Für eine wirkungsvolle Seekriegführung gegen England benötigte die deutsche Flotte Stützpunkte außerhalb der Nordsee am Atlantik, an den Schlagadern der britischen Überseeverbindungen, an denen das Leben, sogar das Überleben auf den Britischen Inseln hing, waren diese doch zu rund siebzig Prozent auf überseeische Einfuhren angewiesen. Aber diese Aufgabe konnte sie nicht aus eigener Kraft meistern. Dazu brauchte sie das Heer. Ein wichtiges strategisches Ziel des Krieges gegen Frankreich mußte daher die Gewinnung und Sicherung der Häfen an der französischen Atlantikküste sein. Aber dieser Gedanke war der Heeresleitung völlig fremd, die glaubte, England in Frankreich besiegen zu können.

So ergab sich bei Kriegsbeginn das bizarre Bild, daß sich die beiden stärksten Schlachtflotten der Welt auf beiden Seiten der Nordsee tatenlos gegenüberlagen. Es kam zwar zu gelegentlichen britischen wie deutschen Flottenvorstößen. Sie führten aber nur selten zu Gefechtsberührungen, die alle ohne Einfluß auf den Gesamtkrieg blieben. Schließlich kam es dann doch zur Schlacht. Am 31. Mai 1916 standen sich die beiden Flotten in der gewaltigsten Seeschlacht, später Skagerrakschlacht genannt, der modernen Seekriegsgeschichte gegenüber. Die Grand Fleet war kräftemäßig weit überlegen, was aber die deutsche Flotte durch überlegene Führung, bessere Schiffe und überlegene Schießkunst mehr als ausgleichen konnte. Die Schlacht wurde taktisch ein deutscher Erfolg. An der seestrategischen Gesamtsituation änderte sich jedoch nichts.

Kontrolle des Kanals galt als kriegsentscheidend

Ein besonderer strategischer Brennpunkt entstand gleich nach Kriegsbeginn im Englischen Kanal. In Umsetzung der Planungen, die bereits in den Jahren 1906 bis 1911 zwischen den Generalstäben Frankreichs und Englands stattgefunden hatten, begann England am 9. August 1914 mit der Anlandung eines Expeditionskorps an der französischen Küste. Von da an ergoß sich ein ständig stärker werdender Strom von Soldaten, Waffen und sonstigen Ausrüstungsgegenständen von den Britischen Inseln auf das Festland. Die britische Flotte griff zusätzlich mit schwerer Schiffsartillerie in die Landkämpfe ein. Hier bot sich der deutschen Flotte ein unerwarteter Ansatzpunkt, mit der britischen Flotte in Gefechtsberührung zu kommen. Hierzu der britische Generalstabchef: „Ein kühner Marsch der Hochseeflotte gegen den Kanal, während sämtliche britischen Großkampfschiffe im Atlantischen Ozean waren, würde den Zusammenbruch des gesamten linken Flügels der verbündeten Armeen in Frankreich mit sich gebracht haben und vielleicht würde die Vernichtung der Seestreitkräfte von Dover genügt haben, um den Krieg zu beendigen.“

Nur Tirpitz erkannte die im Kanal liegenden Möglichkeiten für die deutsche Seekriegführung, konnte sich aber weder beim Kaiser noch beim Reichskanzler durchsetzen. Auch die OHL kam nicht auf den Gedanken, die Unterstützung der Flotte anzufordern. Auf den Punkt gebracht: Das deutsche Heer hätte die entscheidende Marneschlacht, die den Übergang vom Bewegungskrieg zum Stellungskrieg markierte, nicht zu verlieren brauchen. Erst 1918 plante die Flottenführung endlich einen Vorstoß mit der gesamten Flotte in den Kanal, zu dem es aber durch die Meuterei in der Flotte nicht mehr kam. Er wäre strategisch durchaus sinnvoll gewesen, wäre aber vier Jahre zu spät gekommen, denn inzwischen hatte es die deutsche Flotte nicht mehr nur mit der britischen, sondern auch mit der US-Flotte zu tun.

Eine wichtige Aufgabe aber erfüllte die Hochseeflotte von Anbeginn des Krieges an und zwar sehr erfolgreich, wenn sich die Führung auch ihrer Wichtigkeit nicht voll bewußt war. Zunächst einmal hinderte sie die Engländer an einer Landung an der deutschen Nordseeküste, in der Admiral Sir John Fisher, der Erste Seelord der Admiralität, stets eine Alternative zur Landung in Frankreich gesehen hatte. Dadurch wäre an Land eine neue Front entstanden. Zum zweiten blockierte die Hochseeflotte die Zugänge zur Ostsee, unterstützt durch das neutrale Dänemark, das seine Küstengewässer mit Minen gesperrt hatte.

Damit wurden zwei Zwecke erfüllt. Zum einen konnten die deutschen Überseeverbindungen zu den skandinavischen Staaten gesichert werden, vor allem die für die deutsche Rüstungsindustrie lebenswichtigen Eisenerzzufuhren aus Nordschweden. Hinzu kam, daß durch die Ostsee die leistungsfähigste Seeverbindung zwischen Rußland und den westlichen Verbündeten verlief. Fehlender Nachschub an Waffen, Munition und sonstigen Ausrüstungsgegenständen wie auch Verpflegung war letztlich die Ursache für die russischen Niederlagen wie ihren totalen Zusammenbruch, der auch durch die im Krieg bis 1917 gebaute Eisenbahnstrecke nach Murmansk nicht abgewendet werden konnte.

Anders als in der Nordsee entfalteten deutsche Seestreitkräfte – meist ältere Einheiten – eine rege Tätigkeit, oft in enger Zusammenarbeit mit dem Heer. Vor allem gelang es, die russische Ostseeflotte durch einen Minengürtel zu völliger Passivität zu veranlassen, obwohl sie im Laufe des Krieges durch vier moderne Großkampfschiffe verstärkt werden konnte. Den eigentlichen Rückhalt der deutschen Seeherrschaft in der Ostsee bildete aber die Hochseeflotte in der Nordsee, die jederzeit überlegene Einheiten durch den Kaiser-Wilhelm-Kanal kurzfristig von der Nordsee in die Ostsee verschieben konnte, was auch einige Male geschah. Daher ist Jürgen Mirow zuzustimmen, wenn er schreibt: „Wäre die Hochseeflotte in der Skagerrakschlacht vernichtet worden, hätte Deutschland spätestens ein halbes Jahr danach kapitulieren müssen.“

Besonders erstaunlich ist, daß die britische Flotte keinen Versuch unternahm, sich den Weg in die Ostsee zu erkämpfen, obgleich zwischen England und Rußland bereits vor dem Krieg entsprechende Pläne ausgearbeitet worden waren. Die Admiralität scheute einfach das Risiko der Schlacht mit der deutschen Flotte, die unausweichlich geworden wäre.

Auch außerhalb von Nord- und Ostsee befanden sich bei Kriegsausbruch 1914 noch deutsche Seestreitkräfte zur Vertretung deutscher Interessen in Übersee. Deren Aufgaben waren aber mehr polizeilicher als militärischer Natur. Es waren leichte Einheiten, die sich in Friedenszeiten auf britische Stützpunkte angewiesen waren, die ihnen von der britischen Marine auch bereitwillig zur Verfügung gestellt worden waren. Nur im einzigen deutschen Stützpunkt Tsingtau war ein Geschwader mit zwei Panzerkreuzern und drei Kleinen Kreuzern stationiert.

Nachdem diesen Einheiten nach Kriegsbeginn die Rückkehr in die Heimat versperrt war, machte man aus der Not eine Tugend und beauftragte sie, Handelskrieg gegen die britischen Überseeverbindungen zu führen. Sie taten das mit großem Erfolg. Der Name des Kleinen Kreuzers „Emden“ wurde geradezu zur Legende. Dem Geschwader des Grafen Spee gelang es sogar vor der chilenischen Küste ein britisches Geschwader zu vernichten, bevor es selbst von einer Streitmacht moderner britischer Schlachtkreuzer, die extra aus der Nordsee entsandt worden waren, vor den Falklands versenkt wurde. Aber mangels Stützpunkten – der einzige Marinehafen Tsingtau war gleich nach Kriegsbeginn von Japan von der Landseite her erobert worden – und anderen Nachschubmöglichkeiten konnte es nur eine Frage der Zeit sein, wann dieser Handelskrieg, der auch zusätzlich von zu Hilfskreuzern umgebauten Handelsschiffen geführt wurde, zum Erliegen kommen würde.

Rußland blieb zur See von Alliierten abgeschnitten

Im Mittelmeer befanden sich seit den Balkankriegen der Schlachtkreuzer „Goeben“ und der Kleine Kreuzer „Breslau“. Sie dienten dem Schutz deutscher Staatsbürger während der Balkankriege. Auch ihnen war nach Kriegsbeginn die Rückkehr in die Heimat unmöglich. Durch ein Abkommen mit der Türkei wurden beide Schiffe von der türkischen Marine übernommen. Deutschland hatte sie als Ersatz für die beiden für die Türkei in England gebauten, aber bei Kriegsbeginn von England beschlagnahmten Großkampfschiffe angeboten.

War die Türkei anfangs noch schwankend, ob sie zur Wahrung ihrer territorialen Integrität an der Seite Deutschlands in den Krieg eintreten sollte, so gab die Übernahme der deutschen Schiffe den letzten Anstoß. Durch den Kriegseintritt der Türkei an der Seite der Mittelmächte war die letzte Nachschublinie zu den Russen durch die Meerengen von Dardanellen und Bosporus ins Schwarze Meer gekappt. Der 1915 von England unternommene Versuch, die Meerengen durch die Invasion auf der Halbinsel Gallipoli gewaltsam zu öffnen – anders als in der Ostsee –, wurde unter hohen materiellen wie personellen Verlusten zu einem Fiasko, das Churchill den Posten als Erster Lord der Admiralität kostete.

Einen besonderen Trumpf hatte die Kaiserliche Marine noch im Ärmel, einen Trumpf, von dem zunächst niemand wußte, ob er stechen würde. Es war eine bisher völlig unerprobte neue Waffe des Seekriegs: das U-Boot. Der zweite Teil dieses Artikels wird kommende Woche diesen Aspekt vertiefen.

Foto: Willy Stöwer, „Deutsche Panzerschiffe im Feuer. An der Spitze S.M.S. Deutschland“, Farbdruck nach Aquarell, um 1910: Die einzige Flotte außer der britischen, die laut Churchill „wirklich etwas taugte“

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