© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  44/14 / 24. Oktober 2014

In der Regel eine fruchtbare Symbiose
Wolfgang Effenberger und Reuven Moskovitz beleuchten das Verhältnis zwischen christlichen und jüdischen Deutschen vor 1939
Konrad Löw

Das stattliche Werk der Autoren ist die Frucht der Zusammenarbeit eines deutschen und eines jüdischen Autors, beide noch wenig bekannt. Es bietet deutsche Geschichte unter besonderer Berücksichtigung ihrer jüdischen Elemente, seien sie nun gestaltend oder gestaltet – ein lohnendes Unternehmen.

Die meisten der Juden, die dem Leser begegnen, haben sich, wie Jakob Wassermann expressis verbis „als Deutscher und Jude“, primär aber als Deutsche verstanden. Manche wurden sich erst durch die aufgezwungene Ahnenforschung nach 1933 ihrer jüdischen Wurzeln bewußt. Insofern ist der Titel nicht ganz unproblematisch. Hinzu kommt, daß er der Auffassung Vorschub leistet, es habe in Deutschland einerseits die „Arier“ und andererseits die Juden gegeben.

Die Juden als Einheit hat es in der deutschen Geschichte kaum gegeben, auch wenn die Nürnberger Gesetze des Jahres 1935 eine solche Zweiteilung versuchten. Vor 1933 waren Juden praktisch überall anzutreffen, unter den Reichen wie den Armen, den Linken wie den Rechten, den Religiösen wie den Spöttern, den Akademikern wie den Händlern, ausgenommen nur noch das Offizierskorps in Preußen. Die rasch wachsende Zahl der Mischehen tat ein übriges, auch die Zunahme der Konversionen, um eine fruchtbare Symbiose Wirklichkeit werden zu lassen.

Viele Belege einer harmonischen Koexistenz

Die Darstellung holt weit aus, wie die ersten Überschriften zeigen: „Großsteingräber und Pyramiden“, „Die Bibel – ein erstes gemeinsames Band“. Zu Zeiten Luthers waren Juden schon lange in vielen Städten des Reiches anzutreffen. Wenn es in diesem Zusammenhang heißt: „Luthers theologische Kehrtwende von seinen ersten judenfreundlichen Schriften (...) gibt auch heute noch Rätsel auf“, so wohl deshalb, weil hier wie anderswo jede Berücksichtigung von „Toledot Jeschu“, einem weit verbreiteten bösartigen Phantasieprodukt Jesus und seine Mutter betreffend, unterbleibt.

Die großen Verdienste zahlreicher Juden auf fast allen Gebieten des Lebens und des geistigen Wirkens werden klar herausgestellt, zugleich auch daß nicht wenige dieser Größen sich nicht scheuten, die eigene Herkunft einer harten Kritik zu unterziehen, so Heinrich Heine, wenn er über die „schnöde Judenclique“ herzog. Mit dem Nachweis, daß Friedrich Nietzsche kein Antisemit gewesen sei, kann man seine Indienstnahme seitens des NS-Regimes wohl nicht ganz entkräften. Nicht wenige seiner Äußerungen lassen erschaudern. Doch sie werden auch nicht auszugsweise zitiert.

Anders verhält es sich mit dem in München geborenen jüdischen Literaten Lion Feuchtwanger, der sich von Stalin kaufen ließ und dafür dessen Verbrechen nicht mehr wahrnahm, sondern die Zustände in der Sowjetunion möglichst publikumswirksam verherrlichte. Nochmals München, 7. November 1918. Genau am ersten Jahrestag der bolschewistischen Revolution in Petrograd wird der jüdische Journalist Kurt Eisner Anführer der Revolution in Bayern, ein Vorgang, der nach dem Urteil vieler zur Initialzündung für Hitlers Antisemitismus wurde.

Warum die Darstellung gerade dort endet, wo Vertreibung und Mord, wo der Kampf vieler Juden ums Überleben beginnt, wird nicht einsichtig gemacht. Ende 1938 hat noch gut die Hälfte der deutschen Juden des Jahres 1932 in Deutschland gelebt – meist schlecht und recht. Wie viele waren es bei Kriegsende? Wie viele haben als Vertriebene und Ausgewanderte überlebt, wie viele in den Lagern, wie viele im Untergrund, wie viele in den deutschen Streitkräften? Wie haben sich die „Arier“ den Juden gegenüber verhalten? Haben diese „Volksgenossen“ Hitlers Judenpolitik bejaht oder mißbilligt? Um diese Fragen fundiert zu beantworten, gibt es eine erfreuliche Fülle an Quellenmaterial, beginnend mit den problematischen amtlichen Aufzeichnungen bis hin zu Tagebuchnotizen der Opfer und ihrer Freunde. Derlei bleibt gänzlich unberücksichtigt, obwohl hier doch die „Symbiose“ einer ganz außergewöhnlichen Belastung ausgesetzt gewesen ist und sich häufig bewährt hat – man denke nur an die meist stabilen Mischehen. Kurz die Antwort: Die „Moral des Übermenschen“ triumphierte nicht.

In der Einleitung nennt der jüdische Mitautor Versöhnung als Motiv für seine Mitwirkung. Wer sich mit Herz und Verstand dazu bekennt, daß die historische Wahrheit zumutbar ist, den bestärkt dieses Werk in der Überzeugung, daß Deutsche und Juden wie vorgestern so auch in der Zukunft harmonisch zusammenleben können.

Wolfgang Effenberger, Reuven Moskovitz: Deutsche und Juden vor 1939. Stationen und Zeugnisse einer schwierigen Beziehung. Verlag Zeitgeist Print & Online, Ingelheim am Rhein 2013, gebunden, 640 Seiten, Abb., 39,80 Euro

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