© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  44/14 / 24. Oktober 2014

Knapp daneben
Mehr Aufrichtigkeit wagen!
Karl Heinzen

Die Deutsche Bahn ist nicht gerade für aufrichtige Kundeninformation bekannt. Davon können Reisende, die immer wieder erleben, wie sich die angezeigte Verspätung ihres Zuges Schritt für Schritt erhöht, ein Lied singen. Es gibt aber auch Ausnahmen. Anläßlich der diesjährigen „Cannstatter Wasen“, einem traditionellen Massenbesäufnis mit mehr als vier Millionen Teilnehmern, warnten Hinweistafeln auf den Bahnhöfen im Großraum Stuttgart die Passagiere, daß „mit Verspätungen, überfüllten Zügen und verhaltensgestörten Personen zu rechnen“ sei.

An der Berechtigung dieser Warnung gibt es keinen Zweifel. Jeder weiß aus persönlichem Erleben derartiger „Volksfeste“, daß sie nicht nur Psychopathen, Asoziale und Säufer anlocken. Auch Normalbürger verlieren auf ihnen unter Alkoholeinfluß alle Hemmungen und versuchen, der Welt zu demonstrieren, daß sich hinter ihrer langweiligen Maske eine wilde Sau verbirgt.

Auch für die Bahn sind Krakeeler gerngesehene Fahrgäste, wenn diese nur eine Fahrkarte vorweisen können.

Dennoch wurde der für die ungeschönte Formulierung verantwortliche Mitarbeiter der Bahn nicht etwa gelobt, sondern zum Rapport einbestellt. Eine Sprecherin des Unternehmens entschuldigte sich nachdrücklich. Eigenmächtig sei gegen klare Sprachregelungen der Bahn verstoßen worden.

In diesem Land hat es sich eingebürgert, die Wahrhaftigkeit im Umgang miteinander der einfältigen Toleranz und der schleimigen Höflichkeit zu opfern. Dafür gibt es zwei treibende Kräfte. Der Staat meint, jedem Bürger mit dem gleichen freundlichen und kriecherischen Respekt begegnen zu müssen, wie durchgeknallt und pervers er auch sein mag. Einzig gegenüber Nazis, Pädophilen und vielleicht noch Bankern findet er klare Worte. Die Wirtschaft wiederum hofiert jeden, solange er nur zahlt. Auch für die Bahn sind besoffene Krakeeler in ihren Zügen im Prinzip gerngesehene Fahrgäste, wenn sie nur im Besitz einer gültigen Fahrkarte sind. Hier könnte man sich eine Scheibe von der DDR abschneiden, in der Verkäufer den Schneid hatten, sich gegen Zumutungen von Kunden zur Wehr zu setzen. Es wird Zeit, an Geschäften Hinweisschilder anzubringen: „Widerlinge werden nicht bedient.“

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen