© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  45/14 / 31. Oktober 2014

Gepflegt in den Tod Krankenpflege: Kliniken in Deutschland
genießen einen guten Ruf. Dabei nehmen die Mißstände seit Jahren zu. Gegenüber der JUNGEN FREIHEIT packt ein Kenner aus
Henning Hoffgaard

Die letzten Tage in Würde verbringen? Als Christian F.* die über siebzigjährige Frau auf einer Berliner Pflegestation kennenlernt, hat sie nur noch wenige Wochen zu leben. Christian ist ausgebildeter Krankenpfleger. Drei Jahre Ausbildung, drei Jahre Berufserfahrung. Er ist sogenannter Springer. „Ich habe in schon fast jedem Berliner Krankenhaus gearbeitet.“

Als er die Rentnerin zum erstenmal sieht, klingt alles nach Routine. Künstlicher Darmausgang. Keine Seltenheit. „Eine kleine Rötung“ habe die Patientin am Bauch, sagt die Ärztin. Christian schaut auf den Patientenbericht. Dort steht nichts. Er wird stutzig. Ein Blick genügt ihm. Irgend etwas ist schiefgelaufen. Die auf dem Bauch liegende Basisplatte, die den Darmausgang mit den Auffangbeuteln verbindet, liegt falsch. Schnell wird klar: Der an der Haut angenähte Darm ist gerissen. Anstatt in den Beutel ist alles in die Bauchhöhle geflossen. Christian muß schnell reagieren. Eiter und Exkremente werden entfernt. Die Frau wird ins Krankenhaus verlegt. „Die wußten, daß da was war“, sagt Christian. So etwas passiert nicht über Nacht. Ein klassischer Pflegefehler.

Selbst auf Intensivstationen ist die Hygiene oft schlecht

Eine Woche später arbeitet er wieder auf der Station. Auch die alte Dame ist wieder da. „Es war das gleiche in Grün.“ Wieder war der Darmausgang gerissen. Wieder hatte das Pflegepersonal die lebensbedrohliche Situation nicht entdeckt. In diesem Alter sind Darmbakterien unter der Haut eine Katastrophe. Das Immunsystem ist ohnehin geschwächt. Schnell können sich Infektionen bilden. Dennoch hat niemand so genau hingeschaut. Aus Schlampigkeit oder weil die Zeit fehlte. Die Frau kommt erneut ins Krankenhaus. Als Christian das nächste Mal dort arbeitet, ist sie tot. Woran sie am Ende gestorben ist, weiß er nicht. Daß der fehlerhafte Darmausgang ihre Gesundheit geschwächt hat, ist für ihn klar. Und: Es wäre vermeidbar gewesen. Es hätte früher entdeckt werden können.

Christian, der seinen echten Namen nicht in der Zeitung lesen will, erzählt Dinge, die niemand gern hört. Familie, Freunde, Bekannte: Fast jeder in Deutschland kennt jemanden, der auf Krankenpflege angewiesen ist. Fast jeder war schon im Krankenhaus. Wer hört da schon gerne diesen Satz: „Ich habe in den vergangenen drei Jahren noch nie erlebt, daß eine Schwester einen sterilen Verband gelegt hat.“ Viele Krankenpfleger desinfizieren sich nach einem Patienten nicht die Hände. „Das liegt nicht nur am fehlenden Personal oder fehlender Zeit“, sagt Christian. „So eine Desinfektion ist eine Sache von Sekunden.“ Selbst dort, wo es um Leben und Tod geht, ist eine ausreichende Hygiene nicht immer gegeben. 20,2 Prozent der Fachpfleger auf Intensivstationen gaben in einer Studie an, daß nicht immer eine „angemessene Händehygiene durchgeführt werden konnte“.

Für die Patienten ist das eine Katastrophe. Sogenannte Krankenhauskeime sind eine ständige Bedrohung. Durch mangelnde Hygiene verbreiten sie sich auf den Gesundheitsstationen. 2011 steckten sich in Bremen drei Frühgeborene mit Darmbakterien an, die für Erwachsene keine Bedrohung darstellen. Drei Frühchen starben. Es war ein vermeidbarer Tod, stellt später der Krankenhaushygieniker Walter Popp fest. Politiker versprachen mehr Geld und mehr Personal für die Krankenpflege. Dennoch hat sich seitdem nicht viel verändert. Die Frage, ob die Krankenpflege sich in den vergangenen Jahren verbessert habe, läßt Christian ratlos zurück. Ruhig sagt er: „Sie war nie gut.“

In einer großen Berliner Klinik, die eigentlich einen guten Ruf hat, ist ihm ein besonders einprägsamer Fall im Gedächtnis haften geblieben. Der Patient: ein schwer erkrankter Mann mit einem Zentralen Venenkatheter im Hals. Der Kunststoffschlauch endet direkt vor dem rechten Vorhof des Herzens. Hier darf nichts schiefgehen. Jede Infektion könnte sich in Windeseile im gesamten Körper verbreiten. Christian soll den Verband wechseln. Der allerdings sieht schon von außen schmutzig aus. Als er ihn abnimmt, wird schnell klar, warum.

Um den gesamten Einstichort haben sich gelbe und rote Eiterbläschen gebildet. Gefahr ist im Verzug. Das Immunsystem des Patienten funktioniert kaum noch. Jetzt noch eine Infektion wird er nur schwer verkraften. Christian geht zur Ärztin. „Der Katheter muß raus“, sagt er. Die Antwort entsetzt ihn. „Muß das sein?“ fragt die Ärztin. Es habe schließlich so lange gedauert, den Katheter überhaupt zu legen. Christian macht es einfach. Sind das alles Einzelfälle oder ist die Situation außer Kontrolle? Wie steht es um die Pflege in Deutschland?

Beim Deutschen Berufsverband für Pflegeberufe (DBfK) wird die Entwicklung mit Sorge betrachtet. „Die Pflege ist über Jahre kaputtgespart worden. Es wird zuviel Arbeit auf zu wenige Schultern verteilt, Zeitdruck, Dauerstreß und chronische Überlastung bestimmen den Alltag. Das macht den Beruf einerseits unattraktiv für interessierten und geeigneten Berufsnachwuchs und läßt die, die im Beruf sind, berufsbedingt krank werden oder resignieren“, sagt Verbandssprecherin Johanna Knüppel der JUNGEN FREIHEIT. Die Politik habe über viele Jahre sträflich versäumt, die Weichen richtig zu stellen. „Das rächt sich jetzt.“

Viele Stellen können nicht mehr besetzt werden

Es ist ein Teufelskreis, der sich durch mehrere Faktoren nur schwer aufbrechen läßt. Fehlendes Personal ist eine der wichtigsten Ursachen für schlechte Krankenpflege. Gleichzeitig gibt es kaum noch genügend Fachkräfte. Laut dem Gesundheitsportal kliniken.de waren 2013 etwa 40 Prozent der ausgeschriebenen Pflegestellen unbesetzt. Zugleich liegt die Arbeitslosenquote unter Krankenpflegern nach Angaben des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung bei weniger als einem Prozent. Es gibt also schlicht nicht genügend geeignetes Personal, um die Pflegebedingungen zu verbessern.

Für den DBfK gibt es kurzfristig nur eine Lösung. „Wenn man den unzähligen Teilzeitkräften einen echten Anreiz böte aufzustocken, könnten sämtliche Engpässe ohne Probleme behoben werden.“ Das allerdings ist leichter gesagt als getan. Gerade viele Frauen bevorzugen die Teilzeit, um sich auch um die Familie kümmern zu können. Zudem stellt die Krankenpflege eine große Belastung dar. Während in der Gesamtwirtschaft nur 14,8 Prozent der Arbeitnehmer mit schwieriger Körperhaltung, anstrengenden Bewegungsabläufen und dem Hantieren mit schweren Lasten konfrontiert sind, liegt dieser Wert bei Krankenpflegern bei 34,7 Prozent. Im Gegenzug liegt das Bruttogehalt im unteren Bereich. Keine guten Aussichten.

Die demographische Entwicklung wird die Krankenpflege, aber auch die Altenpflege in den kommenden Jahren vor erhebliche Herausforderungen stellen. Die Patientenzahlen steigen schon jetzt. 2013 wurden 18,7 Millionen im Krankenhaus aufgenommen. 1,5 Prozent mehr als noch im Vorjahr. Im selben Zeitraum nahm die Zahl der Krankenpfleger jedoch nur um 0,7 Prozent zu. Besonders düster sieht es bei staatlichen Krankenhäusern aus. Bei steigenden Patientenzahlen sank die Zahl der Pflegekräfte sogar um 0,2 Prozent. Für DBfK-Sprecherin Knüppel ist eine Privatisierung der Krankenhäuser dennoch eine zweischneidige Alternative. „Bei Krankenhäusern nimmt die Privatisierung zu, was mit den klammen Haushalten der Länder zu tun hat. Private haben das Geld für nötige Investitionen, aber sie wollen auch Rendite erwirtschaften. Möglich ist das dann durch Personalabbau, Tarifausstieg, Fokussierung auf lukrative Schwerpunkte.“ Generell gäbe es jedoch noch keine Qualitätsunterschiede. „Alle Einrichtungen müssen Qualitätskennzahlen abliefern, die Kassen schauen darauf, ob die medizinischen Ergebnisse in Ordnung sind.“

Auch ausländische Pfleger sind keine Alternative

Für die Politik sind ausländische Fachkräfte im Moment die Lösung für alle Probleme. Auch bei der Krankenpflege. Hier allerdings stagnieren die Zahlen seit Jahren bei drei bis fünf Prozent der Beschäftigten. „Viele Beispiele zeigen, daß sie im deutschen System keineswegs zufrieden sind und lieber heute als morgen umkehren oder weiterwandern“, betont Knüppel. Auch Christian hat schon Erfahrungen mit osteuropäischen und chinesischen Pflegekräften gemacht. Besonders die Sprachbarriere hält er für problematisch. „Die Patienten müssen erklärt bekommen, was der Pfleger gerade macht, damit sie ihre Ängste verlieren.“ Dies sei bei vielen ausländischen Krankenpflegern jedoch kaum möglich. „Ich selbst würde mir auch nicht zutrauen, im Ausland zu pflegen.“

Eine schnelle Lösung wird es also nicht geben. Christian will dennoch weitermachen. „Die Pflege könnte so viel, wenn sich die Situation verbessern würde“, sagt er. Das entscheidende Wort dabei ist „könnte“. Für die Allgemeinheit blieben die Krankenpfleger allerdings die „Arschabwischer der Nation“.

 

Krankenhauskeime

Sie sind der Schrecken jeder Gesundheitseinrichtung. Sogenannte Krankenhauskeime. Laut Zahlen der Deutschen Gesellschaft für Krankenhaushygiene (DGKH) stecken sich Jahr für Jahr rund 800.000 Menschen in Deutschland mit den Erregern an. 40.000 sterben an den Folgen der Infektion. Das Gefährliche an ihnen ist ihre Resistenz gegen gängige Antibiotika. Ursache dafür ist unspezifische Verwendung der Medikamente durch Ärzte. Viele Bakterien- und Virenstämme passen sich mit der Zeit an diese an. Zur Verbreitung trägt vor allem die mangelde Hygiene in Krankenhäusern bei. Ärzte und Pfleger stecken so unabsichtlich immer neue Patienten mit den Krankenhauskeimen an. Während viele der Erreger für gesunde Menschen keine Gefahr darstellen, sind sie für Personen mit einem geschwächten Immunsystem eine große Bedrohung. Besondes Kleinkinder und Alte sind deswegen oft betroffen. Im Januar 2001 trat das Infektionsschutzgesetz in Kraft, das klare Hygienestandards in Krankenhäusern festlegt. Experten kritisieren jedoch die bis heute mangelhafte Umsetzung der Vorgaben.

Foto: Pflegebedürftige Frau in einem Krankenhaus: „Ich habe in den vergangenen drei Jahren noch die erlebt, daß eine Schwester einen sterilen Verband gelegt hat“

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