© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  45/14 / 31. Oktober 2014

Geistigen Widerstand geboten
Schlüsselroman in der NS-Zeit: Vor 75 Jahren erschien Ernst Jüngers Erzählung „Auf den Marmorklippen“
Felix Dirsch

Für nicht wenige führte Ernst Jünger im Dritten Reich und später jahrzehntelang in der Bundesrepublik eine zurückgezogene, aber durchaus präsente Existenz, als vermeintlich Abwesender anwesend. Nachdem er noch in der Weimarer Republik, als zeitweiliges Freikorps-Mitglied wie als Publizist, auf eine kämpferische Überwindung der verhaßten Ordnung hinarbeitete, änderte er nach 1933 seine Strategie. Quietismus war jetzt angesagt. Einer Zusammenarbeit mit dem „neuen Staat“ entzog er sich. So lehnte Jünger einen Eintritt in die „Deutsche Akademie der Dichtung“ ab. Seine Resistenz stieß die Mächtigen vor den Kopf.

Doch Jünger beließ es nicht bei bloßen Distanzierungen. Literarisch verschlüsselte Spitzen waren allemal möglich. In dem Essay-Band „Blätter und Steine“, der 1934 erschien, heißt es in einem Prosa-Epigramm: „Die schlechte Rasse wird daran erkannt, daß sie sich durch den Vergleich mit den anderen zu erhöhen, andere durch den Vergleich mit sich selbst zu erniedrigen sucht.“ Die Zensur nahm daran Anstoß, der Text erschien trotzdem.

Im Frühjahr und Sommer 1939 arbeitete er an einer Erzählung, die Anfang Oktober auf den spärlicher gewordenen Buchmarkt kam. Sie erscheint in der Hanseatischen Verlagsanstalt mit einer Erstauflage von 10.000 Exemplaren und ist betitelt „Auf den Marmorklippen“. Kritik am Regime war nur – das wußte der am Bodensee lebende Autor – in verschlüsselter Art und Weise möglich. Folgerichtig borden die symbolischen Bezüge über, und sie sind teilweise so allgemein gehalten, daß die Anspielungen auf die aktuellen Verhältnisse nicht zwingend herauszulesen sind. Jünger verortete seine Parabel im Zeitlosen. Wer freilich wahrnehmen wollte, der konnte es. Die Machthaber reagierten mit Schweigen auf das Buch.

Der Erzähler in „Auf den Marmorklippen“ zieht zusammen mit seinem Bruder Otho nach langen Kriegsjahren aus „Alta Plana“ an das friedliche Marina-Ufer, um sich in der „Rauten-Klause“ der Kontemplation und der Botanik zu widmen. In den Wäldern in der Nachbarschaft dieses Gebiets treibt der Oberförster mit den bewaffneten Banden der „Mauretanier“ sein Unwesen. Die Brüder unternehmen immer wieder Streifzüge durch das unsichere Territorium.

Schilderung der Schinderhütten

Vor einem solchen Hintergrund gelingen Jünger beeindruckende Schilderungen von den blutigen Kämpfen in dieser Region, die zu „Menschenjagden, Hinterhalten und Mordbrand“ führten. Der Oberförster, der an den „Reichsförster“ Hermann Göring mehr als an Hitler erinnert, steuert die Gewalttaten, flößt Furcht in kleinen Dosen ein, um den Widerstand zu lähmen.

Im Rahmen ihrer Wanderungen durch das gefährliche Gelände entgehen dem Erzähler und Otho die „Schinderhütten bei Köppelsbleek“ nicht, aus dem manche Rezipienten später „Goebbelsbleek“ machten. Ein „Totentanz“ schockiert sie besonders. Braquemart, der durch seinen Nihilismus als korrumpiert dargestellt wird, gehört zur Truppe des Oberförsters, versucht sich aber dessen Einfluß zu entziehen. Der Gegner des Oberförsters, Fürst Sunmyra, ist hingegen einer „gerechten Ordnung“ verpflichtet.

Literarisch verhüllte Gegenwartsdeutung

Die „für Zeitgenossen sensationelle Schilderung“ der Schinderhütte als Vernichtungsstätte, so Jüngers Biograph Heimo Schwilk, „ist bis heute eines der eindruckvollsten Beispiele für die unbestechliche Imaginationskraft des Dichters geblieben, dem auch angesichts des Schreckens sprachmächtige Bilder gelingen“. Tatsächlich läßt sich Jüngers Verwendung der Feuer-Metapher rund um Köppelsbleek als prophetische Vorwegnahme des Grauens interpretieren. Doch das sind nachträgliche Deutungen. Am plausibelsten ist, daß Jünger auf das damals schon absehbare polykratische Chaos der NS-Herrschaft anspielen wollte – und auf seinen Untergang. Den aktiven Widerstand, für den Sunmyra steht, sieht der Verfasser skeptisch. Im Falle des Gelingens eines Attentats dürfte die Lücke an der Führungsspitze schnell wieder gefüllt werden.

Die Kompositionskunst ist nicht zuletzt daran zu erkennen, daß Jünger nordisch-sagenhafte, zeitgeschichtliche und magisch-realistische Bestandteile in einer Synopse miteinander verbindet. Eine allein historische Sicht lehnte Jünger nach 1945 ab, weil das deutsche Volk nach dem Ende des totalitären Systems ohnehin nur aus NS-Gegnern bestand. Dennoch hat die Parabel in den Jahren der Diktatur manchen zum Nachdenken gebracht. Der Politologe Dolf Sternberger berichtete 1980 von der seinerzeitigen Überraschung, daß diese Äußerungen überhaupt publiziert werden konnten. „Es war wie ein Signal“, so Sternberger über die Wirkung des Buches, „das plötzlich aus der Düsternis aufschießt und die Gegend erhellt. Es bot Stärkung und wirkte als ein Mittel der Verständigung unter denen, die gegen Bedrohung und Versuchung der Tyrannei sich festigten.“

Jünger beherrschte das Spiel auf der Klaviatur der bundesrepublikanischen Gesellschaftsordnung, deren Establishment ihn lange Zeit ausgrenzte, ebensowenig wie die Machtmechanismen in den „dunklen Jahren“. Noch 1993 veröffentlichte die Zeit einen Artikel des fast Hundertjährigen, der eine kurze, literarisch verhüllte Gegenwartsdeutung versuchte. Götter, Mythen und Titanen tummeln sich in diesem Beitrag. Tobte einst Joseph Goebbels, der den Braten gerochen und genau verstanden hatte, so fühlte sich nunmehr eine Kritikerschar, angeführt von dem französischen Links-intellektuellen Pierre Bourdieu, bemüßigt, vor dem „faschistischen Text“ zu warnen. Das Déjà-vu-Erlebnis für den Greis ist offenkundig. Es ist unsicher, ob er die öffentliche Sphäre, die sich in seinen späteren Jahren längst gebildet hatte, zu schätzen wußte. Es spricht wenig dafür, daß er zum Anhänger der Zivilgesellschaft mutierte, die in manchen Fällen nicht weniger ausgrenzend ist als der totalitäre Staatsapparat.

Foto: Ernst Jünger als Offizier in Wehrmachtsuniform, September 1939: Wer seine symbolischen Bezüge wahrnehmen wollte, der konnte es

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