© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  46/14 / 07. November 2014

Die Ohnmacht der Worte
Kino: Stefan Weinert befragt in seinem Dokumentarfilm „Die Familie“ Hinterbliebene von Mauertoten
Sebastian Hennig

Der Dokumentarfilm „Die Familie“ überläßt den Hinterbliebenen der Maueropfer das Wort. Ein Gesicht füllt starr die Großaufnahme. Nur unmerkliche Bewegung läßt erkennen, daß die Frau nach Worten sucht. Ihre Züge wirken wie aus Holz geschnitzt. Dann spricht sie: „Zwei Jahre auf Bewährung. Für einen Todesschützen. Das ist doch was!?“ Irmgard Bittners Sohn Michael wurde 1986 auf einer Holzleiter stehend von einem Grenzposten in den Rücken geschossen, als er gerade die Mauerkrone erreicht hatte.

Der Vorfall wurde zunächst vertuscht, da er sich am Jahrestag der Gründung der Grenztruppen ereignet hatte. Der Mutter wurde vorgemacht, daß ihr seit Tagen bereits toter Sohn als Schleuser zur Fahndung ausgeschrieben sei. Seinen Leichnam konnte sie nie sehen. Es sind solche Details, mit denen der Film von Stefan Weinert die bedrückende Wirklichkeit der unsinnigen Grenze ins Gedächtnis zurückholt.

Auf Berlins menschenleere Straßen fällt Regen. Blitzschläge reißen die Fassaden der Hochhäuser aus dem Dunkel, während aus der „Kapelle der Versöhnung“ an der Gedenkstätte Berliner Mauer die Verlesung der Namen der Todesopfer übertragen wird. In je einem Satz wird jedes einzelne Schicksal angedeutet. So wirkt das Geschehen von damals abgeschlossen. Doch für die Hinterbliebenen ist es nichts weniger als das. Alle denkbaren Vorwürfe gegen sich und andere durchstürmen sie noch viele Jahre nach den Ereignissen.

Da ist der irrationale Vorwurf einer Mutter an den überlebenden Sohn, seinen Bruder in den Tod gerissen zu haben. Eine andere kann sich nicht verzeihen, im Todesmoment ihres Sohn friedlich der Arbeit nachgegangen zu sein, ohne innerlich aufgeschreckt zu werden. Es sind lauter einzelne Geschichten, von denen der Film einige wenige herausgreift.

Die Lokalität ist heute in der gleichgültigen Umgebung versunken. Die Suche nach dem Sterbeort ihres Sohnes endet für Irmgard Bittner unter dem roten Schirm mit der Limonade-Werbung einer amerikanischen Imbißkette. Die bildet den falsch-fröhlichen Hintergrund für eine Gedächtnisstelle. Auf dem Arm trug Michael Bittner das Staatswappen der USA tätowiert. War es diese Welt, nach der er mit seinem letzten Griff an die Mauerkrone verlangt hat?

Nachdem Dietmar Schwietzer seinen Facharbeiterbrief erhalten hatte, machte er sich mit allen Dokumenten und Zeugnissen auf den Weg zur Grenze. Mehrere Hindernisse hatte er erfolgreich überwunden, als er an einem Signalzaun den Alarm auslöste. Von 91 Projektilen, die durch zwei Posten-Duos von den Wachtürmen auf ihn abgegeben wurden, verfehlten nur drei nicht ihr Ziel. Ein Kopfschuß war tödlich. Der Kugelregen wurde damals selbst innerhalb des Grenzregimes kritisch diskutiert.

Warnschilder für den Grenzbereich übersehen

Helmut Kliem war mit dem Bruder im Beiwagen seines Motorrads unterwegs. Sie wollten gar nicht in den Westteil der Stadt und hatten in der Eile nur die Warnschilder für den Grenzbereich übersehen. Zehn Meter vor einem Tor mit einem Wachturm stoppt der Fahrer und dreht eilig um. Doch der Posten ist bereits aufmerksam geworden und eröffnet das Feuer. Tödlich getroffen hält Kliem die Maschine an, zieht den Zündschlüssel, richtet sich auf und sinkt sogleich dem Bruder in die Arme.

Heiko, der Sohn Helmut Kliems, war damals ein Jahr alt. Im Film sieht er nun zum ersten Mal in den Unterlagen Fotos von der Leiche seines erschossenen Vaters. Er besucht den Schützen, der damals 19 Jahre, dumm und jung war. Er zeigt sich verärgert, vor dem Weihnachtsfest durch einen Brief mit der Vergangenheit konfrontiert zu werden. Näher als an die Wechselsprechanlage seines Hauses läßt er niemand damit kommen. Er wählt den Vergleich eines Verkehrsunfalls, ein im Bruchteil einer Sekunde ausgelöster Fehler, den keine Reue mehr ungeschehen machen kann. Da liegt er wohl gar nicht so falsch bei diesem eher ungewöhnlichen Fall. Wenn er tatsächlich einen Warnschuß abgegeben hat, muß dessen psychologische Wirkung jedenfalls verheerend gewesen sein für einen Fahrer, der sich von der Grenzanlage bereits wieder abgewendet hatte.

Es hätte eines gezielten Nachfragens bedurft

Rainer Liebeke aus Gotha ertrank im September 1986 im Sacrower See. Er fuhr mit einem geländekundigen Freund nach Potsdam. Seine Frau Elke wußte nichts von dem Vorhaben. Der Motorradrennfahrer gab vor, einen Mechaniker in Chemnitz zu besuchen. Auf alten Fotos ist ein bezauberndes Paar zu erkennen. Er ist ein offenherziger junger Mann. Sie war eine Schönheit und ist es in all ihrer Traurigkeit bis heute geblieben.

Der Film unterschlägt, daß der Ertrinkende durch eine kaum verheilte Schulterverletzung beeinträchtigt war, die von einem Motorradsturz herrührte. Sein Begleiter hat das Ziel erreicht und verweigert heute die Auskunft über die Geschehnisse jener Nacht. Der Besuch bei dem Beamten, der damals nach einer Woche den Fund der Wasserleiche an der herbstlichen Badestelle von Kindern gemeldet bekam, bringt kein Licht in die Angelegenheit.

Regisseur Stefan Weinert gelangte auf einem Umweg zum Dokumentarfilm. Er begann als Theaterschauspieler und -regisseur, wurde Bühnenbildner und agierte in großen Produktionen als markanter Nebendarsteller an der Seite internationaler Filmstars. Ein längerer Aufenthalt in Spanien brachte ihm das Thema einer jüngst vergangenen Diktatur zum ersten Mal ins Bewußtsein.

Dann wurde er auf die weit frischeren Spuren der Unterdrückung hierzulande aufmerksam. 2009 entstand sein erster Dokumentarfilm „Gesicht zur Wand“. Darin zeigte er an fünf Einzelschicksalen die verheerenden Nachwirkungen der politischen Verfolgung in der DDR. Sein neuer Film führt diesen Ansatz weiter.

Doch in der Wahl der Darstellungsmittel ist „Die Familie“ nicht besonders einfallsreich. Das Bestreben der Nachforschungen erscheint bei allen Beteiligten eher von außen herangetragen, durch die Absicht des Regisseurs. Sohn und Bruder von Helmut Kliem sind ruppige Berliner Typen. Auch Irmgard Bittner wütet roh gegen sich selbst. Die Hinterbliebenen von Dietmar Schwietzer und Rainer Liebeke hingegen sind in einem gelähmten Staunen befangen.

Inkonsequent wirken gelegentliche Fragen aus dem unsichtbaren Hintergrund der Kamera, womit versucht wird, Stockungen aufzulösen und dem Schweigen abzuhelfen. Dabei sind die Worte, welche fallen, meist nicht sonderlich beredt. Es hätte eines gezielten Nachfragens bedurft, um in einige dieser Schicksale mehr Licht zu bringen.

So ist es ein Film über die Ohnmacht geworden. Nicht nur der Machtlosigkeit vor der Gewalt der Maschinenpistolen, sondern auch der Ohnmacht der Worte und des Geistes. Im prunkvollen Treppenhaus des Moabiter Gerichts bezweifelt Oberstaatsanwalt a. D. Bernhard Jahntz die Angemessenheit der Strafe. Juristisch ist der Fall der Mauerschützen beendet. Doch die Gesamtzahl der Todesopfer an der innerdeutschen Grenze konnte bislang noch nicht abschließend festgestellt werden.

www.thefamily-film.de

Foto: Opfer-Angehörige Elke Liebeke und Heiko Kliem, Oberstaatsanwalt a. D. Bernhard Jahntz (v.o.n.u.); Stasi-Akte: Tödlicher Kofschuß

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