© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  46/14 / 07. November 2014

Atmosphäre eines ungewissen Aufbruchs
Das Kinderbuch zum Mauerfall: Reinhard Griebners „Mauerspechte“ in Knabes Jugendbücherei Weimar
Sebastian Hennig

In dem kleinen Weimarer Knabe Verlag ist auf dem Nebengleis der Kinderliteratur jene literarische Gestaltung der deutschen Wiedervereinigung erschienen, nach der die Literaturkritik hierzulande seit über zwei Jahrzehnten Ausschau hält. Die Handlung der „Mauerspechte“ von Reinhard Griebner spielt in den Tagen unmittelbar nach der Maueröffnung. Diese atemberaubende Zeit schildert er in der Form einer kindlichen Erkundung. Früher stromerte der Nachwuchs ungebremst durch die Höfe und Gassen des Viertels. Lücken im Lattenzaun stifteten dabei neue Begegnungen zwischen Nachbarn. Klettereien auf Mauerkronen erweiterten das Revier.

So begegnet der Ost-Berliner Junge Willem Kaiser an der Mauer seinem Altersgenossen aus dem Westen Anton Warkentin und dessen Freunden. Als Willem sich an einer Spalte der Mauer hochziehen will, fliegt ihm ein schwerer Meißel an den Kopf. Dann erscheint ein Kopf mit Kappe und Taucherbrille in der Öffnung. Es folgt das übliche verbale Abtasten unter Jungs. Die Knaben können sich durch das massive Bauwerk nicht nahekommen. Also kabbeln sie sich erst einmal durch den Schlitz im Beton. Worte wie „Ostbrot“, „Zonendödel“ und „Ossokowski“ fliegen Willem um die Ohren. Bis der rote Mädchenschopf von Jasmin Schiva Neumann aus Charlottenburg in der Lücke auftaucht. Die Tochter eines alleinerziehenden linksalternativen Anwalts ist diplomatisch genug, um dem immer noch staunenden Willem gegen die Preisgabe des Geschäftsgeheimnis der Junior-Firma „Mauer Power“ zur Rückgabe des Produktionsmittels zu bewegen. „Wir hämmern Steine aus der Wand und verkaufen sie am Brandenburger Tor“, erläutert sie. Bald darauf wirkt ein abenteuerlicher Unternehmernachwuchs auf beiden Seiten der erodierten Mauer zusammen.

Als junger Kulturwissenschaftler hat der Autor Griebner in den siebziger Jahren beim DDR-Fernsehen angefangen, aber bald vor der ideologischen Beschränkung seine Zuflucht in der freischaffenden Tätigkeit als Autor von Hörspielen und Kinderbüchern gesucht. In der spannenden Interimszeit vor der Wiedervereinigung wurde er dann in eine leitende Position des Deutschen Fernsehfunks in Adlershof zurückberufen.

Begabter Aspirant der neuen Handelswelt

Diese Atmosphäre eines noch ungewissen Aufbruchs ist auch in dem Buch sehr gegenwärtig. Als Jasmin bei Familie Kaiser im Prenzlauer Berg aus dem Fenster schaut, bemerkt sie: „Super Gegend, die Häuser wirken noch richtig schön verschrottet, nicht so aufgeziegelt und langweilig wie bei uns.“ Vieles schien damals möglich. Welthungrige DDR-Bewohner mischten sich in Berlin mit dem Zustrom der Geschäftemacher aus der Bundesrepublik. Die jungen Leute sind mittendrin. Und Willem zeigt sich als begabter Aspirant der neuen Handelswelt. Er führt einen Riesen mit Schlapphut aus dem Schwabenland durch das wilde Berlin. Johannes Schwanz von Brettschuss will den Handel mit den Mauertrümmern ganz groß aufziehen. Das geht natürlich nicht reibungslos. Die kindlichen Lieferanten müssen zäh ihren Anteil aus dem Steinbruch der Geschichte verteidigen.

In der Art von Kästners „Emil und die Detektive“

Anhand dieses Kinderfeldzugs gelingt es dem Autor, die vorhandenen Unebenheiten in den deutsch-deutschen Lebensläufen stellvertretend in ihrer Banalität abzufertigen. Griebner zieht vieles ins Spaßige. Es wirkt aber unbemüht, wenn er den Volkspolizisten Bulle Baumann als geschickten Wendehals zeigt oder der Mister Hookerchucker aus New Orleans am liebsten gleich mehrere Mauern verhökern würde. Historische Ereignisse und allzu menschliches Verhalten geschehen immer zugleich.

„Mauerspechte“ ist eine Bandengeschichte mit flinken Kindern und schwerfälligen Erwachsenen, in der Art von Erich Kästners „Emil und die Detektive“, worauf Willem sogar kurz verweist. Nur ist Griebner weniger sächsisch behaglich als Kästner. Selbst die Kaskaden von Wortspielen haben Esprit. Gerade solche Zutaten sind die Hefe, welche den Erzählfortgang luftig halten. „Mauerspechte“ können ein Anlaß sein, um sich in der Familie oder im Literaturunterricht zwischen den Generationen über die jüngste deutsche Geschichte auszutauschen.

Es ist eine abenteuerliche Begegnung der Heranwachsenden aus den beiden vormals geschiedenen Teilen der Stadt. Griebner weiß recht gut, wovon er schreibt. Er schmeißt sich nicht ran, und es gibt keine Seelenkriecherei bei ihm. Der junge Leser möchte eine Geschichte erzählt bekommen und nicht, daß jemand mit ihm redet, ihn zum Nachdenken verführt. Dergleichen erfreut vielleicht Eltern, Lehrer und Kritiker, aber es funktioniert bei der eigentlichen Zielgruppe nicht. Kinder merken schnell eine Absicht und sind verstimmt. Als absichtslose Erzählung dagegen wird von ihnen Literatur gern aufgenommen, wie der Erfolg der Fantasy-Romane zeigt. Statt sich in verwandten Personen mit den Problemen ihres Alltags wiederzuerkennen, wollen sie sich viel lieber in fremden Figuren verlieren. „Mauerspechte“ spielt in der Kindheit der Eltern. Diese liegt den Zehnjährigen heute kaum näher als griechische Heldensagen.

Die zurückhaltenden Illustrationen von Felix Karweick sind wie selbstverständlich in den Text eingefügt. Ein Anhang versammelt die Erklärungen für zeitverhaftete Begriffe und Anspielungen.

Reinhard Griebner: Mauerspechte. Mit Illustrationen von Felix Karweick. Knabe Verlag, Weimar 2014, gebunden, 250 Seiten, 14,95 Euro

 

Knabe Verlag

Der Knabe Verlag wurde 1932 in Weimar gegründet. Nach 1945 rettete er sich in den Bereich der Jugendbuchs und konnte in der DDR als Privatunternehmen den politischen Zumutungen immerhin bis 1983 standhalten.

Innerhalb dieser Zeit erschienen rund dreihundert Titel mit dem Wappen der von einer Hummel umschwärmten Knabenkrautblüte. Die Halbleinenbände von Knabes Jugendbücherei waren begehrt und im freien Handel nur schwer erhältlich. Die Reihe umfaßte neben Jugendliteratur im klassischen Sinn, wie Abenteuerromane und Mädchenbücher, auch Biographien berühmter Persönlichkeiten sowie regional-historische Sagen und Erzählungen. Schwarz-Weiß-Illustrationen regten die Vorstellungskraft der jungen Leser an, ohne sie festzulegen. Auf der letzten Seite bat der Verlag seine Leser um Auskunft: „Auch für kritische Meinungen sind wir dankbar.“

2007 hat Steffen Knabe den Verlag seines Großvaters wieder aufleben lassen. Frühere Titel wurden nachgedruckt oder als Tonträger produziert. Kinderbücher und eine naturwissenschaftliche Folge zur Bionik sind erschienen. Der neue alte Verlag versucht behutsam seine Position in der Verlagslandschaft wiederzufinden. Als Vorstoß in diese Richtung erschien jetzt nach dreißig Jahren Pause in der Jugendbücherei wieder ein neuer Titel. (SH)

www.knabe-verlag.de

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