© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  46/14 / 07. November 2014

Der Sommer ’89 wird wieder lebendig
Arte: Eine Dokumentation zeigt, wie ein Toter am Eisernen Vorhang die Weichen für den Zusammenbruch des Ostblocks stellte
Lion Edler

Osteuropa 1989: In Ungarn öffnen sich kleine Fenster der Hoffnung. Seit 1988 regiert Miklós Németh das Land. Schnell avanciert der Reformer zur Schlüsselfigur der friedlichen Revolution.

Eine neue Arte-Dokumentation, die zum 25. Jahrestag des Mauerfalls ausgestrahlt wird, widmet sich nun dem Wirken Némeths und dem Fall des „Eisernen Vorhangs“. Als der Volkswirt Németh sich kurz nach dem Amtsantritt mit dem ruinösen ungarischen Staatshaushalt beschäftigt, wird er über Unglaubliches informiert: Ein erheblicher Teil der Staatsausgaben fließt in einen 240 Kilometer langen elektrischen Zaun an der Grenze zu Österreich – den „Eisernern Vorhang“.

Die veralteten Anlagen werden teilweise mit Material aus dem kapitalistischen Frankreich geflickt – finanziert mit geliehenen Devisen. Németh streicht den Posten aus dem Etat und will die Grenzanlagen abbauen. Dafür hat er die Unterstützung des sowjetischen KPdSU-Generalsekretärs Michail Gorbatschow, doch Németh und seine Leute rechnen jederzeit mit dem Sturz Gorbatschows durch sowjetische Betonköpfe. Außerdem wird Németh von der DDR-Staatsführung kritisch beäugt. Stasi-Wanzen überwachen ihn in Ungarn.

Eine zusätzliche Provokation wagt Németh durch die Teilnahme am nachträglichen Begräbnis des früheren ungarischen Ministerpräsidenten Imre Nagy, der 1958 hingerichtet wurde, nachdem er sich 1956 auf die Seite des Volksaufstands gestelllt hatte. Beim Begräbnis trägt Németh eine schußsichere Weste – jederzeit muß er damit rechnen, daß ihn das gleiche Schicksal wie Nagy ereilt. Gleichzeitig erzählt der Film die Geschichte des Weimarer Architekten Kurt-Werner Schulz, der beim Versuch, über Ungarn nach Österreich zu flüchten, von Grenzsoldaten erschossen wurde. Er gilt als das letzte Todesopfer des „Eisernen Vorhangs“; sein Tod bewog Németh zusätzlich, die Grenze zu öffnen. Der Film ist eine sehenswerte Dokumentation der damaligen Ereignisse.

1989 – Poker am Todeszaun. Sonntag, 9. November, 22.10 Uhr, Arte

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