© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  46/14 / 07. November 2014

Der Flaneur
Jenseits der Muttersprache
Paul Leonhard

Küchenglucken beim Stadtpoeten. Der sitzt Jesus gleich mit langen offenen Haaren an der Front des langen, selbstgebauten Holztisches und wird vom Licht des aufgeklappten Laptopbildschirms blaß angestrahlt. Vor ihm liegt aufgeschlagen das Neue Testament. Der Dichter schreibt, während seine Jünger diskutieren. Nach der selbsternannten Boheme finden sich mit zunehmend fortschreitender Stunde auch die Werktätigen ein.

Über lokale und weltpolitische Probleme wird diskutiert. Besonders David und Richard sind in Form. Beide aus dem Ruhrgebiet, haben sich gerade erst hier kennengelernt. Der eine montiert hier in der Provinzstadt im Dreiländereck zu Polen und Tschechien im Auftrag seiner Firma Maschinen, der andere holt seinen Berufsabschluß nach. „Weißt du“, sagt David gerade. „Die Polen haben inzwischen gelernt, die geschichtlichen Realitäten anzuerkennen.“ Das Land hier sei eben einmal deutsch gewesen. „Und davor polnisch“, antwortet Richard. „Denk nur an die ganzen Piastenfürsten.“

„Ihr seid doch keine Daitschen, warum unterhaltet ihr Polen euch eigentlich auf daitsch?“

David wischt das störende Argument des anderen mit einer Handbewegung weg. Er hebt den Zeigefinger. „In Polen gibt es im Gegensatz zu Litauen und der Ukraine, wo viel Unsinn erzählt wird, keine Geschichtsverfälschung.“ Während Richard nachdenkt, mischt sich plötzlich Armin ein. „Genau, und deswegen kriegt ihr demnächst Lemberg zurück, falls Putin nicht vorher in Warschau steht.“

Der Oberschlesier hat dem Gespräch der beiden schon eine Weile mit immer breiterem Grinsen zugehört. „Ihr seid doch keine Daitschen, warum unterhaltet ihr Polen euch eigentlich auf daitsch, hat es euch die Muttersprache verschlagen?“

David und Richard schauen sich verblüfft an. „Du bist Pole?“ – „Tak.“ Und schon schnattern sie in ihrer Sprache weiter, während sich die Einheimischen vor Lachen auf die Schenkel klopfen und sich einem anderen Thema zuwenden: Wieviel polnische Namen inzwischen an den Klingelschildern der Altstadthäuser stehen. Das sei schon fast wie jenseits der Neiße.

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