© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  46/14 / 07. November 2014

Alles andere als ahnungslos
Bonns Bundesnachrichtendienst war über die Zustände in der DDR gut informiert
Friedrich-Wilhelm Schlomann

Es ist heute üblich, sein Nicht-Wissen über das Ende der DDR mit der Unwahrheit zu entschuldigen, die damalige Entwicklung sei „nicht voraussehbar“ gewesen. Egon Bahr behauptet sogar, die westliche Spionage habe „nichts gewußt“, und viele äffen diese Phantasie-Story gläubig nach. Schon kurzes Nachdenken hätte zu der Frage geführt, wie eine solche Behauptung entstehen konnte. Dafür gibt es lediglich zwei Möglichkeiten: Entweder kannte Bahr sämtliche Geheimakten aller westlichen Nachrichtendienste oder diese hätten ihm ihr (angebliches) Nicht-Wissen gebeichtet – beides ist höchst unwahrscheinlich. Sogar die DDR-Stasi warnte noch 1989 vor der „qualitativen und quantitativen Verstärkung“ der BND-Spionage. Zutreffend stellte unlängst die Süddeutsche Zeitung in einem Artikel eines seriösen Experten fest: „Der einzige, der die Wiedervereinigung kommen sah, war der Bundesnachrichtendienst.“

Sein Präsident in dieser Zeit, Hans-Georg Wieck, hatte zuvor als westdeutscher Botschafter in Moskau die UdSSR mit ihrer wirtschaftlichen Stagnation sehr kritisch erlebt. Nirgendwo erhielt sie noch notwendige Kredite, sie besaß indes ein Faustpfand: die DDR. Über diesen Teil Deutschlands war die BND-Zentrale in Pullach stets gut informiert, auch nach dem Bau der Mauer.

Im Spätsommer 1988 gelang es sogar, ein Mitglied des ZK der SED anzuwerben, das über gute Verbindungen zu Honecker sowie Mielke verfügte und den Bundesnachrichtendienst über jeden größeren Schachzug Ost-Berlins bis zuletzt in Kenntnis setzte. Vieles berichteten dessen geheime Augen und Ohren aus den SED-Bezirksleitungen, über die ebenfalls manches über die Führungsspitze zu erfahren war. Selbst im Ministerium für Staatssicherheit besaß man Zuträger. Das Buch des einstigen BND-Spions Werner Stiller über die MfS-Spionage, das Pullach vielen Angehörigen dort zukommen ließ, führte zu einer weitgehenden Verunsicherung. Im Apparat des Devisen-Schmugglers Alexander Schalk-Golodkowski gab es manche höhere Funktionäre, die für den BND tätig waren. Über ihn selbst kursieren unterschiedlichste Gerüchte; Tatsache ist, die Bundesregierung wollte ihm 1990 eine neue Identität verschaffen – eigentlich erfolgt Derartiges nur dann, wenn der Betreffende für jenen Staat Außergewöhnliches geleistet hatte ...

Innerhalb der Sowjetischen Besatzungstruppen waren offensichtlich einige Offiziere auf seiten Pullachs gewesen. Ihre Kasernen jedenfalls standen stets unter Kontrolle von scheinbar harmlosen DDR-Fußgängern, die sich für die Truppenstärken, deren Panzer und Geschütze interessierten. Vergessen darf man nicht, daß bis zu 8.000 DDR-Bewohner für Reparaturen in sowjetischen Militäranlagen eingesetzt waren und vieles, was sie sahen, an den BND weiterleiteten. Wladimir Putin, damals KGB-Offizier in Dresden, besaß eine Geliebte. Als diese schwanger wurde, was im KGB-Milieu nicht bekannt werden durften, gab Putin ihr im Sommer 1989 zur Abtreibung eine Ausreisegenehmigung nach West-Berlin. Sie blieb dort für immer, stand die DDR-Bewohnerin doch seit Jahren in Diensten des BND.

Bei den DDR-Streitkräften verfügte Pullach über „Quellen“ bis in die höchsten Spitzen. Rund 4.000 Bundeswehrsoldaten betrieben für den BND taktische Fernmeldeaufklärung; recht oft kannten sie sogar die Namen der sowjetischen Flugzeugbesatzungen. Die Awacs-Maschinen der Nato beherrschten überdies den gesamten Luftraum bis Polen. Die elektronische Aufklärung des BND galt als führend bei allen westlichen Diensten. Ein militärischer Überraschungsangriff des Warschauer Paktes gegen Westeuropa wäre jederzeit schon in dessen notwendigen Vorbereitungen erkannt worden.

Während das oft naive offizielle Bonn an die Propaganda-Wirtschaftszahlen Ost-Berlins glaubte, die DDR sei die „zwölft­stärkste Volkswirtschaft der Welt“, waren Wieck und seine Führungsspitze vom Gegenteil überzeugt: Sie kannte die ungeheuren Schulden des Regimes, und nach ihrer Analyse werde die UdSSR bereits 1990 die DDR nicht mehr unterstützen können; Ost-Berlin würde sehr bald finanziell und dann auch politisch einen Kollaps erleiden. Als am 9. Oktober 1989 in Leipzig 70.000 Demonstranten die Straßen beherrschten und die bewaffneten DDR-Einheiten zurückwichen, prognostizierte man in der Pullacher Heilmannstraße: Das ist der Anfang vom Ende der DDR. Unvergessen ist andererseits die Anfrage des Bundeskanzleramts, ob es sich bei den Demonstranten um westdeutsche NPD-Propagandisten gehandelt hätte.

Den genauen Tag des Falls der Mauer hat niemand vorausgesehen; im Spätsommer 1989 indes unternahm der BND zahlreiche Anwerbungsversuche bei SED-Führern mit dem Hinweis, die Mauer werde bald fallen, und es sei gut, sich auf die neue Zeit einzurichten ...

Entgegen der Ansicht mancher westdeutscher Politiker, die Einheit solle langsam erfolgen, drängte Pullach auf eine schnelle Wiedervereinigung. Nach BND-Erkenntnissen würde diese Chance nur in der Zeit bestehen, in der Moskau noch nicht unter den Druck der regionalen Machtzentren Rußlands geraten sei. Heute weiß man: Diese Desintegration begann bereits Ende 1990, also drei Monate nach der Wiedervereinigung Deutschlands.

 

Dr. Friedrich-Wilhelm Schlomann ist freiberuflicher Autor zahlreicher Bücher, meist über nachrichtendienstliche Themen.

Foto: Sitz des BND in Pullach: Über jeden Schachzug in Ost-Berlin informiert

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