© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  47/14 / 14. November 2014

Niemand wird Chlorhühnchen essen müssen
TTIP: Die wichtigsten Streitpunkte rund um das Handelsabkommen zwischen der EU und den USA / Investorenschutz wird bereits heute praktiziert
Christian Schreiber

Selten haben internationale Verhandlungen die Gemüter so erhitzt wie das transatlantische Freihandelsabkommen (TTIP) zwischen der EU und den Vereinigten Staaten. Obwohl das Ringen, das ein Mitglied der EU-Kommission einmal als „Feilschen wie beim Autokauf“ bezeichnet hat, eigentlich geheim ablaufen sollte, sind durch gezielte Indiskretionen Unterlagen an die Öffentlichkeit gelangt.

Seitdem wird die Debatte äußerst emotional geführt. Verbraucherschützer fürchten, Europäer müßten künftig Chlorhühnchen essen, andere sorgen sich darum, daß amerikanische Unternehmen den deutschen Staat vor Schiedsgerichten verklagen könnten und der Bundesrepublik dabei erhebliche Kosten entstehen könnten.

Die TTIP-Gegner sind dabei so lautstark, daß der Eindruck entstanden ist, sie wären in der überwältigenden Mehrheit. Überraschend kam kürzlich aber eine Emnid-Umfrage zu einem anderen Ergebnis: Demnach finden 48 Prozent der Deutschen, daß das Abkommen eine gute Sache sei, während deutlich weniger (32 Prozent) es für eine generell schlechte Idee halten. Weitere 17 Prozent der Befragten haben sich eigenen Angaben zufolge noch keine eigene Meinung zu diesem Thema gebildet.

Die Verhandlungen laufen seit dem Sommer 2013. Die EU-Kommission ist dabei an das Mandat gebunden, das ihr die Mitgliedsstaaten verliehen haben. Dieses Mandat ist weit gefaßt und läßt den Vertretern viel Handlungsspielraum. Bei TTIP geht es nicht nur darum, das insgesamt recht geringe Zoll-Niveau weiter zu senken. Auch andere Handelshemmnisse sollen beseitigt werden. Am Ende hoffen beide Seiten auf Mehreinnahmen wegen des wachsenden Güteraustauschs.

Ursprünglich sollten die Verhandlungen bis Ende dieses Jahres abgeschlossen sein. Mittlerweile sieht es so aus, als ob sich die Gespräche bis Ende 2015 hinziehen. Hintergrund ist auch hier der offensichtliche Nachbesserungsbedarf, der durch die Veröffentlichung einiger Dokumente entstanden ist.

Dem TTIP-Abkommen in seiner Endfassung müssen sowohl das EU-Parlament als auch die Staaten zustimmen. Hierbei ist die Einstimmigkeit der Mitgliedsländer erforderlich, dies gilt aber als Formsache. Sobald das Abkommen über reine Handelsfragen hinaus in die Kompetenz der Mitgliedsstaaten eingreift, müssen es außerdem die nationalen Parlamente billigen. Die Hürde dafür ist sehr niedrig. Es genügt ein Unterpunkt oder ein Zusatzprotokoll, um die Zustimmung der nationalen Parlamente erforderlich zu machen. TTIP-Befürworter verweisen darauf, um den Vorwurf, der Nationalstaat würde ausgehöhlt, zu entkräften.

Strittig sind auch die sogenannten „nichttarifären Handelshemmnisse“. In den USA und der EU gibt es unterschiedliche Prüfverfahren und Standards. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung nannte kürzlich ein prägnantes Beispiel. In den USA leuchten die Blinker von Autos rot, in Europa orange. Das ist Vorschrift. Keine Variante ist sicherer als die andere – dennoch müssen deutsche Autobauer für den amerikanischen Markt Autos mit roten Blinkern herstellen. Die Industrie klagt, daß dadurch hohe und unnötige Kosten entstehen würden.

Firmen müssen beweisen, daß sie benachteiligt werden

Zudem seien hohe Standards beim Verbraucher- und Gesundheitsschutz zentraler Bestandteil des Abkommens. Genmanipulierte Lebensmittel müssen in der EU ohnehin gekennzeichnet werden, gleiches gilt auch für das „Chlorhühnchen“, welches für Theater sorgt.

Obwohl nicht geklärt ist, ob durch die Behandlung von Chlor gesundheitliche Schäden entstehen, wurde es zum Inbegriff der TTIP-Ablehnung. Aber der Bundesbürger wird ebensowenig gezwungen, es zu essen, wie der US-Amerikaner französischen Blauschimmelkäse verzehren muß. Dieser gilt bei unseren Nachbarn als Delikatesse, in den USA sagt man ihm nach, er beinhalte krebserregende Stoffe.

Hauptkritikpunkt an TTIP ist aber das geplante Schiedsgerichtsverfahren. Hierbei geht es um den Investorenschutz. Bereits heute gibt es eine große Zahl solcher Abkommen, alleine Deutschland unterhält 130 Vereinbarungen mit anderen Staaten. Die Schiedsgerichte sollen sicherstellen, daß ausländische Unternehmen nicht benachteiligt werden. Für Aufsehen sorgten sie, weil Konzerne sie öfter nutzen, um gegen Gesetze und Auflagen der Industriestaaten vorzugehen.

So klagte der schwedische Atomkraftwerkbetreiber Vattenfall gegen die Bundesrepublik, der amerikanische Tabakhersteller Philip Morris zog in Australien vor ein Schiedsgericht. Der Ausgang dieser Prozesse ist ungewiß, denn es reicht nicht aus, daß ein Gesetz zum Gesundheits- oder Umweltschutz die Gewinnspanne eines Unternehmens beeinträchtigt. Die Firmen müssen beweisen, daß sie benachteiligt wurden, etwa weil sie nicht ausreichend angehört worden sind. Allerdings sollen die Schiedsgerichtsverfahren im TTIP-Abkommen keine Berufungsmöglichkeit enthalten. Hier hat die Bundesregierung ihr Veto angekündigt.

Deutsche Wirtschaftsverbände halten diese Sorgen jedoch für unbegründet. Schutzverträge und Investor-Staats-Schiedsverfahren sind seit Jahrzehnten Mittel für deutsche Unternehmen, um ihre Auslandsinvestitionen abzusichern. Die EU-Kommission und die US-Regierung könnten die TTIP-Verhandlungen nutzen, um diese Instrumente zu reformieren. Sie förderten Investitionen und ließen sich realisieren, ohne die Rechtssysteme in der EU und den USA auszuhöhlen. Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) ist da allerdings anderer Meinung. Die „Abtretung der Rechtshoheit“ sei nicht verhandelbar.

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