© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  47/14 / 14. November 2014

Angst vor der Anonymität
Herkunft eines Klassikers: Der Literaturwissenschaftler Reiner Stach legt den dritten und letzten Band seiner exzellenten biographischen Erkundung des Schriftstellers Franz Kafka vor
Felix Dirsch

Franz Kafka ragt aus der Gruppe der Schriftsteller der klassischen Moderne hervor: Sein grundlegendes Thema, die verbreitete Angst des Menschen vor der Anonymität und unüberschaubaren Komplexität der modernen Welt, hat heute sogar noch an Bedeutung gewonnen. Ungemein beeindruckend ist seine literarisch verhüllte Vorwegnahme der todbringenden „Allianz von Gewalt und Verwaltung“ (Stach). In der unmittelbaren Gegenwart, neun Jahrzehnte nach Kafkas Ableben, wird deutlich, wie nicht zuletzt durch informationsverarbeitende Techniken die massiv gesteigerte Abstraktion des alltäglichen Lebens die ohnehin vorhandenen Unsicherheiten noch deutlich hat wachsen lassen. Die Affäre Snowden mit all ihren Offenbarungen als „kafkaesk“ zu umschreiben, wirkt eher verharmlosend.

Diese verblüffende Aktualität ist einer der Gründe dafür, daß Kafka nach zuverlässigen Recherchen der weltweit meistgelesene deutschsprachige Schriftsteller des 20. Jahrhunderts ist. Entsprechend riesig sind Sekundärliteratur und Rezeption. Vor diesem Hintergrund mutet die Absicht des Germanisten Reiner Stach, die definitive Kafka-Biographie, sofern es eine solche überhaupt geben kann, vorzulegen, überaus mutig an. Nicht überraschend ist es, daß der abseits vom Universitätsbetrieb akribisch arbeitende Literaturwissenschaftler beinahe zwei Jahrzehnte gebraucht hat, um das dreibändige Projekt abschließen zu können. Finanzierungsprobleme, die es aufgrund des relativ langen Zeitraumes offensichtlich gegeben hat, haben sich erfreulicherweise lösen lassen.

Stach konnte nicht auf alle Quellen zurückgreifen

Nunmehr ist es geschafft, und man kann sich kaum vorstellen, daß die Forschungsleistung in Zukunft noch überboten werden wird. Daran ändert auch die Tatsache nichts, daß Stach nicht auf sämtliche Quellen zurückgreifen konnte. Von den Erben des Nachlaßverwalters Max Brod in Israel hat er wohl nicht jede erdenkliche Hilfe im Hinblick auf bisher unzugängliches Material erhalten, vor allem zum jungen Kafka. Deswegen hat er die mittlere Lebenszeit seines Helden („Die Jahre der Entscheidungen“) auch im zuerst publizierten Band beschrieben, dann die spätere („Die Jahre der Erkenntnis“), schließlich die frühen Jahre von der Geburt 1883 bis zu einem Sanatoriumsaufenthalt des früh an Tuberkulose Erkrankten im Jahre 1911.

Die Trilogie umfaßt rund 2.000 Seiten. Sie geht selbstverständlich nicht nur auf das curriculum vitae des 1924 verstorbenen Autors ein, sondern auch auf den zeitgeschichtlichen Hintergrund sowie auf die weitverzweigte Familiengeschichte und die umfangreichen Beziehungen zu Freunden, zu Bekannten und zu diversen Geliebten.

Ein vielschichtiger Mikrokosmos wird ausgebreitet, der seinesgleichen sucht. Wo finden sich in einer Biographie schon so exakte Beobachtungen über Rang- und Dienstabzeichen, Orden und Uniformen, die die Welt vor 1914 (und auch noch lange danach) in einer Weise geprägt haben, wie das heute kaum mehr vorstellbar ist? Auch an Kafka ging eine solche Präsenz eindrücklicher Zeichen und Symbolbestände nicht vorbei. Stach kann erstaunlich vieles klären, was bisher unbekannt war, wohl aber nicht alles. Die Abgründe der Psyche Kafkas, die ungemein häufig versucht wird zu erhellen, kann auch ein noch so kundiger Biograph nicht vollständig ausloten. Insofern ist es zu begrüßen, daß Stach stets im verbindlichen Radius der Forschung verbleibt und nicht selten spekulative Ausflüchte mancher amerikanischer Kafka-Monographien vermeidet.

Verbleiben wir beim kürzlich erschienenen dritten Teil der exzellenten Darstellung, der alle Leser anregen sollte, auch die beiden früheren Bände (wieder) zur Hand zu nehmen. Stach scheut nicht davor zurück, seine Erzählung mit dem Prager Fenstersturz beginnen zu lassen, der etliche Fernwirkungen bis hinein in Kafkas Zeitalter zeigt. Stilistisch brillant wie plastisch führt der Verfasser die enorm vielschichtige Herkunftswelt Kafkas vor Augen: das Viertel seiner Kindheit und Jugendzeit, seine jüdischen Vorfahren und sein eigenes Verhältnis zur ererbten Religion, den – kaum zu überschätzenden – Einfluß des Vaters, die Geschwister und Freunde, von denen Max Brod einen besonderen Stellenwert einnimmt. Der Entwicklung seiner Sexualität, soweit rekonstruierbar, wird breiter Raum eingeräumt. Davon nicht zu trennen ist die Liebe zu seiner Verlobten Felice Bauer – eine Beziehung, die zum Scheitern verurteilt ist.

Salons, Cafés, Bordelle, Literatenzirkel

Die Lebenswelt des angehenden Juristen ist maßgeblich bestimmt von Prager Salons, Cafés, Bordellen und Literatenzirkeln, aber auch von zahllosen Errungenschaften technischer Modernität. Ebenfalls wird die Tätigkeit eines Versicherungsangestellten, die bekanntlich für Kafka alles andere als befriedigend war, minuziös ausgebreitet. Natürlich fehlen ausführliche Hinweise auf seine frühen Veröffentlichungen und deren Genese nicht, etwa die Beschreibung eines Kampfes und Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande. Kafkas Reisen (oft krankheitsbedingt) werden genauso beleuchtet wie die kultur-, sozial- und wissenschaftsgeschichtlichen Hintergründe seines Wirkens.

Stach setzt die Erfolgsgeschichte seiner Beschäftigung mit dem Prager Meistererzähler fort und beendet sie. Das Geheimnis der Untersuchung besteht darin, daß sie (trotz ihrer guten Lesbarkeit für den unzünftigen Rezipienten) selbst dem Experten noch einige neue Erkenntnisse in Detailfragen präsentieren kann. Man wünscht sich, daß Stach, der produktive Privatgelehrte, auch künftig im literaturwissenschaftlichen Bereich tätig bleibt.

Reiner Stach: Kafka. Die frühen Jahre. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2014, gebunden, 607 Seiten, 34 Euro

Foto: Franz Kafka (um 1906): Weitverzweigte Familiengeschichte

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