© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  47/14 / 14. November 2014

GegenAufklärung
Kolumne
Karlheinz Weissmann

Der 800. Geburtstag Ludwigs des Heiligen hat in Deutschland kaum Resonanz gefunden, während seiner in Frankreich mit der Souveränität einer geschichtsbewußten Nation gedacht wird. Weder die Fremdheit seiner Ideenwelten noch die Bedeutung für die Monarchie überhaupt – seiner Vorbildlichkeit verdankte der französische Königsname „Ludwig“ die Normativität – noch die Rolle, die er seit der Zeit der Restauration für die Royalisten gespielt hat, scheint zu irritieren. Es genügt offenbar als Begründung seines Rangs der Minimalkonsens, daß in Ludwig dem Heiligen der Vorranganspruch Frankreichs auf dem Kontinent zur Geltung kam und die Umrisse des französischen Zentralstaats sich abzuzeichnen anfingen.

Man muß Wolf Biermann nicht mögen, und ich pflege seit langem eine Aversion, nicht nur wegen seiner Neigung zum Herumpoltern und seiner Eitelkeit, sondern auch, weil er für meine kryptokommunistische Deutschlehrerin zu den Säulenheiligen – den „drei B“, also Brecht, Böll, Biermann – gehörte, mit denen sie uns die Literatur verleidete. Daran haben auch die halbherzige Opposition im Osten, die Schikanen des SED-Regimes und die Ausbürgerung 1976 durch die Machthaber der DDR wenig geändert. Wer sich noch erinnert, wie sich Biermann, kaum im Westen angekommen, hinstellte und erklärte, daß er, „wenn die russischen Panzer kommen am 17. Juni (…) verzweifelt und mit Tränen in den Augen die Mütze runterreißen und diese Panzer begrüßen“ wollte, wird das nachvollziehbar finden. Aber ich gebe zu, daß es angesichts der Art und Weise, wie er am 9. November im Deutschen Bundestag aufgetreten ist, Gründe gibt, die bisherige Einstellung zu überdenken: ausnahmsweise mal „épater la gauche“ und das „Einigkeit und Recht und Freiheit“ nicht gebrüllt und nicht im Ton tiefster Männerchortraurigkeit, sondern mit Lässigkeit und Ernst, irgendwo zwischen Chansonnier und Ernst Busch.

Die bis heute sichtbarste Spur, die die Herrschaft Ludwigs des Heiligen hinterlassen hat, ist die Sainte-Chapelle im Herzen von Paris. Ihre Architektur ist symbolisch zu lesen, im Hinblick auf die Anlage als integraler Bestandteil des königlichen Palastes der Ile de la Cité, im Hinblick auf den Bau in der Vertikale – mit der Unterkirche für das Gefolge, der Oberkirche für den König, dem Gewölbe für Gott –, aber auch im Hinblick auf ein Bildprogramm, das die Bedeutung der französischen Monarchie angesichts der bevorstehenden Apokalypse bestimmte: Da erscheint Ludwig nicht nur als neuer David – eine im Mittelalter verbreitete Anschauung –, sondern auch als neuer Mose und als neuer Aaron, ein Priesterkönig, ausgezeichnet durch Krone und Tiara, berufen als Aufhalter, als Katechon. Eine Idee, die auf das Volk ausstrahlte, das in dem Kontext als neues Israel verstanden wurde. Auch ein Grund, weshalb man mit der Suche nach den Wurzeln des andauernden französischen Sendungsbewußtseins weiter zurückgehen sollte als bis zur Revolution von 1789.

Bildungsbericht in loser Folge LXVII: Der Lehrer: „In vielen Berufen gilt ein bestimmter dress code. Das muß keine Uniform oder Amtstracht sein, aber man kann jedenfalls nicht herumlaufen wie man will. Je wichtiger desto strenger die Vorgabe. Ausnahmen bestätigen auch da nur die Regel: T-Shirt, Jeans und Turnschuhe läßt man dem unverzichtbaren Computer-Nerd natürlich durchgehen …“ Der Schüler: „… oder dem Studienrat“.

Nekrolog: Bei den Nachrufen auf Klaus Bölling, der Anfang November mit 86 Jahren verstarb, fiel die Einlinigkeit der Darstellung auf. Selbstverständlich spricht nichts dagegen, die Höhepunkte der Karriere – die Funktion als Regierungssprecher, das Intermezzo als Ständiger Vertreter der Bundesrepublik in der DDR – zum Angelpunkt zu machen, aber das Leben verliert doch jeden Anlauf, was die Perspektive verzerrt, vor allem wenn es so lange dauert wie heute üblich. In meiner Bibliothek steht jedenfalls ein Exemplar von Böllings 1964 erschienenem Buch „Die zweite Republik“ mit einer Widmung „Herrn Außenminister Dr. Gerhard Schröder“ von einem „sehr ergebenen“ Klaus Bölling. Derlei wirkt wie ein Überrest aus einer längst vergangenen Epoche, jener Phase der „Restauration“, die Leute wie Bölling später mit solcher Verachtung straften und so gekonnt zur Absetzung ihrer eigenen progressiven Gesinnung nutzten. Aber irgendwann waren sie auch Teil des „Systems“, unfertig, unsicher, auf Anpassung und Sondierung aus.

Noch das zur Sainte-Chapelle: In einem – heute verschwundenen – Anbau der Kirche ließ Ludwig der Heilige die wichtigsten Dokumente verwahren, die die Besitztitel für die Krongüter aufzeichneten. Eine merkwürdige Verschränkung von Heilig und Profan, die auch nicht ohne Folgen für das staatliche Selbstverständnis Frankreichs geblieben ist.

Die nächste „Gegenaufklärung“ des Historikers Karlheinz Weißmann erscheint am 28. November in der JF-Ausgabe 49/14.

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen