© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  47/14 / 14. November 2014

Terrororganisation „Islamischer Staat“
Frieden wird nicht mehr sein
Martin van Creveld

Was ist schiefgelaufen? Im Mittelalter schufen die Araber eine große Zivilisation – will man uns zumindest weismachen. Irgendwann im 15. Jahrhundert begannen sie dann den Anschluß zu verlieren und verpaßten zunächst die Erfindung der Druckkunst – erst 1775 ließen die Osmanen, die damals über die Mehrheit der Araber herrschten, die Gründung der ersten Druckerei zu. Sie verpaßten den Humanismus, die Renaissance und die Reformation. Sie verpaßten die wissenschaftliche Revolution und die Aufklärung. Sie verpaßten die Französische und die Amerikanische Revolution mitsamt den Grundsätzen der Demokratie und Menschenrechte; nicht zuletzt verpaßten sie die industrielle Revolution.

Wie so oft in der Geschichte ging mit dieser Rückständigkeit eine militärische Schwäche einher, die wiederum als Einladung zu Invasionen verstanden wurde. Am Ende des Ersten Weltkriegs lebten sämtliche arabischen Länder unter europäischer Besatzung – mit dem entsprechenden Blutvergießen, der Zerstörung und Erniedrigung. Der Befreiungsprozeß begann in den dreißiger Jahren und dauerte bis in die Sechziger an. Viele der neuen Regime waren republikanisch und laizistisch geprägt. Sie versprachen, den Rückstand gegenüber der Moderne aufzuholen und setzten dabei zumeist auf eine wie auch immer geartete Variante eines „arabischen Sozialismus“.

Algerien, Tunesien, Libyen (ab 1969), Ägypten, Syrien und der Irak gingen diesen Weg. In den Monarchien (Marokko, Saudi-Arabien, Jordanien und den Golfstaaten) verhielt sich die Lage etwas komplizierter. Auch die dortigen Regime verspürten den Drang zur Modernisierung, um sich in der modernen Welt zu behaupten. Jedoch fiel es ihnen schwerer, sich von altehrwürdigen Traditionen zu trennen, auf die sich ihr Machtanspruch schließlich stützte.

Wie auch immer, die Modernisierung scheiterte. Bis heute gibt es kein arabisches Hyundai, kein arabisches Toyota oder Alibaba. Die Gründe dafür – politische Instabilität, extreme Armut oder der auf Erdöl begründete Wohlstand, der es einfacher erscheinen läßt, von Importen als von eigener Produktion zu leben – sind von Staat zu Staat unterschiedlich. Daß die Korruption in vielen dieser Regime untrennbar zum Regierungswesen gehört, kommt erschwerend hinzu. Rechtsstaatlichkeit ist ein Fremdwort, die Geheimpolizei macht, was sie will, und wenn überhaupt Wahlen stattfinden, handelt es sich um eine Farce. Daran hat auch der vollkommen überschätzte „arabische Frühling“ nichts geändert.

Der IS speist sich aus einer quasi permanenten Demütigung durch ausländische Mächte und verschiedene arabische Herrscher. Daraus erklärt sich auch dessen offensichtliche Attraktivität für Freiwillige aus so gut wie allen arabischen Ländern.

Einige arabische Herrscher, insbesondere die Saudis, zeichneten sich durch Konservatismus und Bigotterie aus. Andere, insbesondere Muammar al-Gaddafi in Libyen, kombinierten ihren brutalen Despotismus mit dem Habitus eines Zirkusclowns. Die Versuche der arabischen Staaten, sich mit militärischer Gewalt durchzusetzen, wurden regelmäßig von Israel – das die meisten Araber für eine Marionette des Westens halten – oder wie 1991 vom Westen selber zurückgeschlagen. Zu Beginn des neuen Jahrtausends war der Verfall so weit fortgeschritten, daß das Adjektiv „arabisch“ automatisch als Synonym für zweit-, dritt- oder gar viertklassig galt – Arabische Vollblüter bildeten offensichtlich die einzige Ausnahme.

Dies war der Hintergrund, vor dem Daisch – die im Westen als „Islamischer Staat“ (IS) bekannte Terrorgruppe – entstand. Die Ursprünge der Organisation liegen im Irak, wo sich Gruppen von Sunniten aus Ressentiment ob des Verlusts der privilegierten Stellung, die sie unter Saddam Hussein genossen hatten, von al-Qaida abspalteten, um den Kampf gegen die amerikanischen Besatzer und die schiitische Mehrheit aufzunehmen. Von hier aus griff sie mit Beginn des dortigen Bürgerkriegs im Jahr 2011 auf Syrien über, wo sie gemeinsam mit anderen Milizen das Regime von Baschar al-Assad bekämpfte. Inzwischen richtet sich ihre Aufmerksamkeit wieder verstärkt auf den Irak. Sie speist sich aus einer seit einem Jahrhundert anhaltenden quasi permanenten Demütigung durch ausländische Mächte und verschiedene arabische Herrscher. Daraus erklärt sich auch ihre offensichtliche Attraktivität für Freiwillige aus so gut wie allen arabischen Ländern und Angehörige arabischstämmiger Minderheiten im Westen.

Manche von ihnen verfügen über einen hohen Bildungsstand. Dennoch verdammen sie keineswegs die Greueltaten, für die Daisch berüchtigt ist, sondern unterstützen die Organisation gerade deshalb. Endlich – so glauben sie – eine Organisation, die gewillt ist, für den wahren Islam einzustehen! Die ihre Brücken hinter sich abreißt und kompromißlos bis zum bitteren Ende kämpft: sowohl gegen die verhaßten korrupten arabischen Regierungen – ob republikanisch oder monarchistisch – als auch gegen den anmaßenden Westen.

Das bringt die arabischen Regierungen in eine problematische Lage. In Syrien und dem Irak gibt es kaum noch etwas, was man als Regierung bezeichnen könnte. Die Herrscher der Golfstaaten, insbesondere Katar, hegen keine Sympathien für Daisch, versuchen aber, sie mit Geld zu beschwichtigen. Die haschemitische Dynastie fürchtet die Organisation zu Recht – eine Haltung, die von der Militärregierung in Ägypten angesichts der Verbindungen zwischen Daisch und der islamistischen Opposition geteilt wird.

Bemerkenswert ist vor allem die Position der Saudis. Das Königshaus dürfte wenig Sehnsucht nach einer Neuauflage des Kalifats haben, das seine Vorfahren einst von Konstantinopel aus regierte. Auch Greueltaten wie zuletzt die Enthauptung der britischen Geisel Alan Henning stoßen dort auf wenig Gegenliebe, weil sie die Scharia, das in Saudi-Arabien gültige islamische Recht, aus Sicht der USA – auf deren Hilfe das saudische Regime im Konflikt mit dem Irak und womöglich bald auch mit dem eigenen Volk angewiesen ist – in ein äußerst ungutes Licht rücken. Andererseits sehen manche Saudis Parallelen zwischen Daisch und ihrem eigenen Land, bevor es infolge der Entdeckung von Erdöl westlichen Einflüssen unterworfen wurde. Gut möglich, daß sich diese Ansicht durchsetzt, sollte es zum Sturz des in den 1930er Jahren von Ibn Saud gegründeten Hauses kommen.

Wenn diese Entwicklung so weitergeht, ist es durchaus denkbar, daß sie anstelle einer neuen panarabischen politisch-religiösen Ordnung den Untergang der arabischen Welt hervorbringt. Die Frage ist, ob wir zulassen, daß sie den Rest der Welt mit sich reißt.

Somit steht die gesamte – geopolitisch ungemein bedeutende – Region zwischen Mittelmeerküste und Persischem Golf kurz davor, von einer ganzen Reihe miteinander in Zusammenhang stehender Kriege überzogen zu werden. Bislang stellen Sunniten, Schiiten sowie hier und da kleine christliche Minderheiten die Mehrheit der Täter und Opfer. Ausländische Mächte mischen sich jedoch zunehmend ein. Saudi-Arabien, die Türkei und der Iran sind längst mehr oder weniger stark in die Konflikte verwickelt – das gleiche gilt für Jordanien, Israel und den Libanon. Und die USA spielen wieder einmal eine entscheidende Rolle – oder versuchen es zumindest, indem sie eine breite Koalition von Verbündeten, darunter mehrere arabische Staaten, mobilisieren und damit drohen, alles in Grund und Boden zu bombardieren.

Was letztlich dabei herauskommt, ist momentan nicht abzusehen. Möglicherweise gelingt es Daisch, Assad zu stürzen und eine andere Regierung in Syrien einzusetzen – möglicherweise aber auch nicht. Möglicherweise gelingt es ihr, den gesamten Irak in ihre Gewalt zu bringen – möglicherweise aber auch nicht. Möglicherweise mischen sich Jordanien, Israel und der Libanon noch stärker ein, als sie es bereits zum gegenwärtigen Zeitpunkt tun – möglicherweise aber auch nicht. Möglicherweise tun die Saudis, die Golfstaaten, die Türken und die Iraner es ihnen gleich – möglicherweise aber auch nicht.

Fest steht, daß Daisch nur eine von mehreren ähnlich gearteten und miteinander konkurrierenden Organisationen ist, die sich der Errichtung eines neuen Kalifats verschrieben haben. Mit einiger Gewißheit läßt sich auch sagen, daß Luftangriffe wenig gegen sie ausrichten werden. Sicher ist nur, daß sehr viele Menschen sterben werden und die bestehende politische Ordnung – sofern davon in den jeweiligen Ländern überhaupt die Rede sein kann – erst zerstört werden muß, bevor auch nur daran zu denken ist, daß eine neue Ordnung an ihre Stelle tritt.

Wenn diese Entwicklung so weitergeht, ist durchaus denkbar, daß sie anstelle einer neuen panarabischen politisch-religiösen Ordnung den endgültigen Untergang der arabischen Welt hervorbringt. Die Frage ist, ob wir zulassen, daß sie den Rest der Welt mit sich reißt.

 

Prof. Dr. Martin van Creveld, Jahrgang 1946, gilt als einer der weltweit renommiertesten Militärhistoriker der Gegenwart. Von 1971 bis zu seiner Emeritierung lehrte er Theorie des Krieges an der Hebräischen Universität Jerusalem. Für die JUNGE FREIHEIT schrieb er zuletzt auf dem Forum über Zustand und Mentalität der Armeen des Westens („Schmusekatzen“, JF 34/14).

Foto: IS-Dschihadisten im nordsyrischen Raqqa: Es gibt keinen arabischen Hyundai, keinen Toyota, keinen arabischen Alibaba-Konzern, dafür Willkürherrschaft, Korruption und Perspektivlosigkeit. Ein fruchtbarer Nährboden für minderbemittelte junge Männer, sich durch die Gewaltphantasien des Islam groß zu fühlen.

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen