© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  47/14 / 14. November 2014

So sprach man vor 1.500 Jahren
Die Urform des Deutschen und des Englischen
Andreas Graudin

Wolfram Euler ist Linguist und Indogermanist mit einer eindrucksvollen Publikationsliste in einem Fachgebiet, das im Zeichen von „Bologna“ als „Orchideenfach“ bewertet wird. Mit einer Fachstudie über das Westgermanische, genauer Proto-Westgermanische, schließt Euler eine wissenschaftliche Lücke. Er weist schlüssig nach, daß es zwischen dem Urgermanischen und dem Herausbilden germanischer Stammessprachen Zwischenstufen gab. Im wesentlichen das Westgermanische, das gemeinsame Wurzeln mit dem Ostgermanischen (Gotisch, Burgundisch) hat. Das Westgermanische ist so die letzte gemeinsame Vorform des Englischen wie des Deutschen.

Seine Existenz wird durch spärliche Runenschriftzeugnisse belegt. Euler legt nun die linguistische Herleitung und Untermauerung der westgermanischen Sprache vor, wie sie im 4. Jahrhundert gesprochen wurde. Das ging nur durch Parallelisierung gut überlieferter westgermanischer Einzelsprachen des 7. und 8. Jahrhunderts. Althochdeutsch, Altenglisch, Altsächsisch, Altniederländisch und Altfriesisch lassen sich auf eine gemeinsame westgermanische Wurzel zurückführen und so auch eine gemeinsame Grammatik rekonstruieren. Zeitgleich entsteht aus einem „verwilderten“ Latein und westfränkisch-germanischen Dialekten ein erster Ansatz des Französischen.

Es geht beim Westgermanischen um die Zeit zwischen dem 3. und 6. Jahrhundert, also der letzten Völkerwanderung. Diese Zeit kann als das Goldene Zeitalter der Germanen gelten. Rom war überwunden und in den frei gewordenen Gebieten etablierten sich nach endgültiger Landnahme christliche Königreiche und eine Sozialstruktur, die bis zur Schwelle der Neuzeit erhalten bleiben sollte.

Euler bringt die spärlichen schriftlichen Zeugnisse, oft gestützt auf frühe christliche Überlieferungen, in ein vergleichendes linguistisches System. Das Wissen um Lautverschiebungen und die Analogien zu späteren Epochen machen eine Rekonstruktion der westgermanischen Sprachstufe praktisch möglich. Letzte Zweifel bleiben, denn die Sprache jener Zeit ist mit Logik rekonstruiert, die wir aus dem Lateinischen kennen. Diesen Maßstab für eine praktisch schriftlose Sprache anzuwenden ist gewagt.

Wolfram Euler: Das Westgermanische von der Herausbildung im 3. bis zur Aufgliederung im 7. Jahrhundert. Verlag Inspiration Unlimeted, Berlin 2013, gebunden, 244 Seiten, 49 Euro

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