© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  48/14 / 21. November 2014

„Diese Sicht ist schlichtweg falsch“
Die Waffenruhe in der Ukraine ist gebrochen. Der Westen gibt Rußland die Schuld. Doch das ist nicht die entscheidende Frage. Schuld an der Krise ist vielmehr der Westen, meint der renommierte US-Politologe John Mearsheimer in einem nun auch auf deutsch erschienenen Essay.
Moritz Schwarz

Herr Professor Mearsheimer, von einem „Eklat“ war die Rede: Präsident Putin verließ den Gipfel in Brisbane vorzeitig, weil er angeblich von anderen Staatschefs gemieden worden sein soll. War das klug?

Mearsheimer: Das moralische und strategische Überlegenheitsgefühl des Westens verhindert leider mitunter, daß wir uns außenpolitisch klug und kalkuliert verhalten. Putin hat mehrfach betont, daß wir die russischen Sicherheitsinteressen nicht genug beachten.

Das hat er in seinem Interview mit dem deutschen Fernsehen am Sonntag wiederholt. Aber stimmt das auch?

Mearsheimer: Ohne Zweifel.

In Ihrem Essay für „Foreign Affairs“, der führenden US-Zeitschrift für Außenpolitik, gehen Sie noch weiter und kritisieren: „Im Westen gilt, an der Ukraine-Krise sei maßgeblich die aggressive Haltung der Russen schuld.“ Ist das denn nicht so?

Mearsheimer: Nein.

Warum ist Ihnen diese Sicht zu eng?

Mearsheimer: Diese Sicht ist mir nicht zu eng. Sie ist schlichtweg falsch.

Und was ist dann richtig?

Mearsheimer: Nicht Putin ist der Hauptverantwortliche, der Westen ist es.

Sie halten Putin für unschuldig?

Mearsheimer: Natürlich ist er nicht unschuldig, aber hier geht es um die Frage, wem wir den Ukraine-Konflikt zu verdanken haben.

Die meisten Medien in Deutschland sind sich einig: Putin.

Mearsheimer: Die meisten Medien in den USA sagen das auch. Aber, ist das ein Argument?

Zumindest ist es ein Umstand, dem Sie sich stellen müssen.

Mearsheimer: Der bekannte Diplomat George Kennan, Pulitzer-Preisträger und vormals Planungschef im US-Außenministerium, sagte die Krise bereits 1999 in einem Interview mit der New York Times voraus. Und er sagte in dem Gespräch auch, daß wenn es soweit wäre, der Westen Rußland beschuldigen würde. Nun, der Westen ist eben unwillig, in den Spiegel zu schauen und sich seine Verantwortung einzugestehen.

Immerhin war es Präsident Putin, der auf die politische Krise in der Ukraine mit einer verdeckten militärischen Aggression reagiert hat. Oder bestreiten Sie das?

Mearsheimer: Nein, aber Putin stand nach der Absetzung Präsident Janukowitschs plötzlich vor der Situation, daß die Ukraine über kurz oder lang Mitglied der Nato und die Krim so zu einer Nato-Marinebasis werden könnte. Das konnte er aus russischer Sicht nicht zulassen. So sah er sich von seinem Standpunkt aus gezwungen, im ersten Schritt die Krim zu annektieren. Nachdem das sichergestellt war, ging es im zweiten Schritt darum, einem künftigen Nato-Beitritt der Ukraine vorzubeugen, indem er das Land erschüttert. Das tut er seitdem: die Ukraine destabilisieren, um sicherzustellen, daß sie möglichst nie Teil der Nato und der EU werden kann.

Das klingt allerdings wie die lupenreine Beweisführung für eine Hauptschuld Putins.

Mearsheimer: Finden Sie? Dann haben Sie die Botschaft dahinter immer noch nicht verstanden. Putin bestraft nicht nur die Ukraine, er sendet vor allem eine Nachricht an uns: Wenn ihr weiter versucht, die Ukraine zu einem Teil des Westens zu machen, dann werdet ihr dafür einen Preis zahlen.

Aber hätte Putin dem Westen nicht auch die rote Karte zeigen können, ohne einen Krieg vom Zaun zu brechen?

Mearsheimer: Aha, welche?

Drohungen, Protest, Abbruch der Beziehungen – es gibt eine ganze Reihe von Möglichkeiten im Arsenal der Diplomatie.

Mearsheimer: Ich bitte Sie. Das haben seine Vorgänger zwanzig Jahre lang getan. Schon Boris Jelzin hat immer wieder deutlich gemacht: Eine Erweiterung der Nato nach Osten ist für Rußland inakzeptabel! Ebenso ein Wechsel der Ukraine von Rußland hin zum Westen. Aber der Westen stellte sich taub, Moskaus Einwände interessierten ihn nicht. Unverblümt haben wir die Nato-Ausweitung betrieben, ebenso wie die Ablösung der Ukraine von Rußland. Und diese Entwicklung mündete schließlich im Putsch vom 22. Februar gegen Präsident Janukowitsch.

Janukowitsch war beim eigenen Volk zunehmend unbeliebt und wurde schließlich von den eigenen Leuten abgesetzt.

Mearsheimer: Ja, aber der Westen hat tatkräftig an Janukowitschs Stuhl gesägt. Seit 1991 haben die USA Millionen Dollar ausgegeben, um die Demokratie in der Ukraine zu fördern.

Was ist daran verwerflich?

Mearsheimer: Mein Argument ist nicht, daß es verwerflich, sondern daß es dumm ist. Sie brauchen nur auf die Seite des National Endowment for Democracy zu klicken, da ist aufgelistet, wer in der Ukraine alles Geld aus dem Westen bekommen hat. Nun seien Sie aber bitte nicht naiv. Die USA unterstützen natürlich nicht einfach so die Demokratie, sondern sie unterstützen Leute und Initiativen, die ihnen freundlich gesinnt sind und Einfluß verschaffen. Dank eines von Rußland abgehörten und geleakten Telefonats wissen wir, daß zum Beispiel Victoria Nuland, US-Vizeaußenministerin für Europa und Eurasien, offensiv die Absetzung Janukowitschs betrieben hat.

Sie wollen sagen, hinter dem Sturz Janukowitschs steckt der Westen?

Mearsheimer: Nein, das sage ich nicht. Ich sage nur, daß er ihn betrieben hat. Ich behaupte nicht, daß das entscheidend war. Wir wissen das schlicht nicht. Entscheidend dagegen ist, wie Rußland darauf reagiert, wenn es mit ansehen muß, wie der Westen Wühlarbeit gegen einen prorussischen Präsidenten betreibt, der dann tatsächlich stürzt. Deutlicher kann man den Russen nicht signalisieren, daß man an ihrem Sicherheitsinteresse nicht interessiert ist. Fazit: Ich sehe also nicht, daß Rußland nach dem Sturz Janukowitschs noch andere Optionen gehabt hat, sich unmißverständlich auszudrücken. Der Westen wollte einfach nicht zuhören.

Wenn Moskau nur ein Zeichen setzen wollte, hätte es gereicht, die Krim zu annektieren. Warum mußte Putin einen Krieg in der Ostukraine auslösen?

Mearsheimer: Es ist nicht klar, daß er die Unruhen dort ausgelöst hat.

Russische Medien und Aktivisten haben die Proteste angeheizt.

Mearsheimer: Kein Zweifel, sie haben das Feuer dort angefacht. Aber daß sie es auch entfacht haben, dafür fehlen schlagende Beweise.

Moskau unterstützt die Aufständischen mit Waffen und offenbar auch mit Soldaten.

Mearsheimer: Natürlich, das habe ich doch vorhin selbst gesagt: „Putin tut alles, um die Ukraine zu erschüttern, das Land zu destabilisieren.“ Ja, ich würde sogar sagen zu demolieren. Das ist furchtbar. Es geschehen schreckliche Dinge. Das ist nicht zu bezweifeln. Aber was Rußland tut, tut es, weil es sich von unserem Verhalten provoziert fühlt.

Wollen Sie Putin rechtfertigen?

Mearsheimer: Nein, ich will sein Handeln erklären. Und ich will zeigen, daß wir wußten, welche Reaktion Rußlands unser Handeln provozieren würde.

Inwiefern?

Mearsheimer: Es gab immer wieder Warnungen. Eine – das Interview der New York Times mit George Kennan – habe ich schon genannt. Eine andere: 2008 intervenierte Rußland in einem kurzen Krieg in Georgien. Im Hintergrund ging es damals um die Frage, ob Georgien Nato-Mitglied sein könnte. Moskau wollte klarstellen: Das lassen wir nicht zu. Wir haben also einen Schuß vor den Bug erhalten. Wir haben gesehen, zu was Rußland bereit war. Aber es hat uns nicht gekümmert. Im Fall Ukraine haben wir weitergemacht, wissend, daß das, was für Georgien gilt, in den Augen Moskaus erst recht für die Ukraine gilt! Die Zeche zahlen nun die Menschen, die dort getötet, die mißhandelt werden oder fliehen, die Hab und Gut zurücklassen, um den Kämpfen zu entkommen.

Machen Sie da nicht die Opfer Putins zu Opfern des Westens?

Mearsheimer: Nein, aber ich frage schon nach der Verantwortung des Westens für diese Opfer. Auf dem Nato-Gipfel 2008 beriet die Allianz darüber, ob Georgien und die Ukraine Mitglied des Bündnisses werden sollten. Damals war es Ihre Regierung – zusammen mit Frankreich –, die dies abgelehnt hat! Warum? Weil die Deutschen – was ihnen nach meiner Meinung zur Ehre gereicht – verstanden hatten, daß das eine Krise auslösen könnte.

Kanzlerin Merkel hat am Sonntag in einer „Knallhart-Rede“ und „Kampfansage“ mit Putin regelrecht „abgerechnet“, wie die deutschen Medien schreiben.

Mearsheimer: Natürlich ist seit Ausbruch der Krise unter den westlichen Staatschefs keine Rede mehr von den damaligen Uneinigkeiten. Nun geht es um eine einheitliche, entschlosse Position des Westens gegenüber Moskau. Aber die Episode zeigt, daß westliche Entscheider durchaus verstanden hatten, welche Situation unsere Politik gegenüber Rußland auslösen könnte. Und da frage ich: Warum hat man das nicht beachtet? Warum hat man sehenden Auges eine Politik betrieben, von der man wußte, daß sie Rußland so reagieren lassen könnte? Wer, frage ich Sie, hat also die Krise verursacht?

So gesehen der Westen – aber das ist nur die eine Sicht der Dinge. Dem steht entgegen, daß die Osteuropäer in die Nato wollten, daß die Bürger der Ukraine ein Assoziierungsabkommen mit der EU wünschten. Mit welchem Recht setzt Rußland seine Ansprüche über das Recht auf Selbstbestimmung der Völker Osteuropas?

Mearsheimer: Ich sage doch gar nicht, daß ich ihnen dieses Recht vorenthalten will. Aber ich erlaube mir zu fragen: Und was passiert dann? Ist es wirklich klug, einen Stärkeren zu provozieren? Auch wenn ich jedes Recht dazu habe? Als Analytiker beobachte ich, daß wer sich nach der Devise verhält, ich setze mein Recht durch, koste es was es wolle, sehr schnell in große Schwierigkeiten gerät. Handelt der Führer eines kleinen Landes wirklich verantwortungsbewußt, wenn er es absehbar in die Konfrontation mit einer benachbarten Supermacht führt? Hat er wirklich das Recht dazu, für sein prinzipielles Recht die Menschen seines Landes ins Unglück zu stürzen?

Nun ...

Mearsheimer: Ich sage, nein, dieses Recht hat er nicht. Und stehe ich allein damit? Nun, man könnte argumentieren, daß Kuba als souveränes Land durchaus das Recht hatte, Raketen auf seinem Territorium zu stationieren. Damals waren es die USA, die meinten, nein, dieses Recht habe Kuba nicht. Ja, es sogar für selbstverständlich hielten, Kuba dafür zu bestrafen und bereit waren, einen Weltkrieg dafür zu riskieren.

Kritiker klagen, der Westen kreise Rußland durch das Vordringen der Nato in Osteuropa und der USA in Zentralsasien ein.

Mearsheimer: Falsch, eine gezielte Einkreisung hat der Westen nie betrieben. Die Nato-Osterweiterung zielte nie gegen Rußland. Dahinter steckte eher die liberale Vorstellung, daß es etwas ganz Natürliches sei, die im Westen geschaffene Zone der Freiheit und Demokratie immer weiter auszudehnen. Nur ignoriert das die Gesetze der Geopolitik. Und das ist mein Punkt! Der Westen glaubte auch, es in Irak, Libyen und Syrien gut zu meinen, als er den Sturz der Diktatoren dort betrieb. Tasächlich aber haben wir diese Länder damit ins Chaos katastrophaler Bürgerkriege gestürzt. Dank der westlichen Ignoranz gegenüber geopolitischen Prinzipien haben wir alles vermasselt, was sich vermasseln ließ. Im Wilden Westen hätte man gesagt, der Westen, das ist ein Cowboy, der zu doof ist, um geradeaus zu schießen.

 

Prof. Dr. John Mearsheimer, der US-Politikwissenschaftler wurde 2001 mit seinem (allerdings nicht auf deutsch erschienenen) Buch „The Tragedy of Great Power Politics“ über den „offensiven Neorealismus“, als dessen Hauptvertreter er gilt, bekannt. 2007 sorgte er dann mit der Studie „Die Israel-Lobby. Wie die amerikanische Außenpolitik beeinflußt wird“ für Wirbel in den internationalen Feuilletons, in dem er konstatierte, daß die amerikanische Nahost-Politik nicht mehr den nationalen Interessen der USA, sondern, dank des Einflusses einer proisraelischen Lobby, denen Israels folge. Nun sorgt sein Essay „Putin reagiert. Warum der Westen an der Ukraine-Krise schuld ist“ für Aufmerksamkeit. Mearsheimer, geboren 1947 in New York, lehrt an der Universität von Chicago, wo er von 1989 bis 1992 das Institut für Politologie leitete und dann dort Direktor des Programms für internationale Sicherheitspolitik war.

Foto: Panzer russischer Separatisten in der Ostukraine: „Warum hat der Westen sehenden Auges eine Politik vorangetrieben, von der er wußte, daß sie Rußland zu so einer Reaktion veranlassen könnte?“

 

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