© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  48/14 / 21. November 2014

Höllischer Abend im Alptraumland
Episodenfilm „Traumland“: Beklemmendes Drama von Petra Volpe im Kino
Sebastian Hennig

Spielfilme, die unerfreuliche Entwicklungen nehmen, spekulieren dabei oft auf die Schadenfreude oder mindestens den Voyeurismus der Zuschauer. Kleine humoristische Bösartigkeiten schmeicheln dem Publikum in seiner Behaglichkeit. Petra Volpes „Traumland“ ist ein durch und durch bedrückender Film. Das weihnachtliche Zürich darin zeigt sich gar nicht weihevoll. Viel eher ist es ein Alptraumland.

Der Heilige Abend wird zu einem höllischen Abend. Um schmucklose kleine Fenster gaukelt unruhige elektrische Festbeleuchtung. An einer Hochhausfassade segelt derweil ein brennender Weihnachtsbaum herab. Es beginnt wie in einem dieser üblichen Episodenfilme. Wir beobachten nacheinander verschiedene Menschen. Familien, Paare, Einsame, Witwen und Verlassene werden gezeigt in ihren Beziehungen zueinander oder in ihrer Beziehungslosigkeit zur Umwelt. Bald ergibt sich eine meist indirekte Verbindung miteinander über den Kontakt zu der bulgarischen Prostituierten Mia (Luna Zimić Mijović). Die bosnische Schauspielerin gestaltete in „Grbavica“ (Esmas Geheimnis, 2006) die Rolle der durch eine Vergewaltigung während des Jugoslawienkriegs gezeugten Tochter.

Bei Judith (Bettina Stucky) ist eine Berührung zu Mia am offensichtlichsten. Sie ist in einem öffentlichen Pausenraum-Container für den Straßenstrich engagiert. Dort werden Kaffee und Präservative und andere Beihilfen ausgegeben. Ein Plakat an der Wand fragt mit riesigen Buchstaben „Juckt’s?“

Mia ist Heiligabend noch als letzte unterwegs. Sie darf das Türchen mit der Nummer 24 öffnen. Am nächsten Tag will sie heimwärts zu ihrem Kind fahren. Aber auch Judith geht nach getaner Arbeit nicht sogleich nach Hause zu ihrem geduldigen verständnisvollen Mann Jonas (Stefan Kurt). Sie hat sich in einem Hotelzimmer mit einem Uniformierten zu Unterwerfungsspielen verabredet.

Jonas, dem Judiths Eskapaden nicht verborgen geblieben sind, reißt der Geduldsfaden. Es gibt eine heftige Auseinandersetzung. Im Nachgang läßt der Kantor dann seinen Chor mitten im Weihnachtskonzert allein auf der Bühne zurück und entfernt sich türeknallend.

Rolf (André Jung) lebt in einer riesigen Wohnung allein. Seine Frau hat ihn verlassen. Seine Tochter läßt ihn abblitzen, und sein Vater ist ein harter Hund. Mit belegten Brötchen geht er darum zu Mia und versucht Dienste von ihr zu erlangen, die nicht zu ihrem Repertoire zählen.

Judith (Ursina Lardi) und Martin (Devid Striesow) leben weniger in Zimmern als in einer Wohnlandschaft. Doch auf dieser Bühne, die ihnen die Innenarchitekten gezimmert haben, ist die Handlung seit längerem erstarrt. Sie nimmt wieder Fahrt auf, als die hochschwangere Judith ihrem Mann zufällig auf die Schliche kommt. Der reagiert offenbar seine Triebe kostenpflichtig außer Haus ab. Devid Striesow spielt wunderbar unsympathisch das Schauspielern des Ertappten vom Erstaunten über den Empörten bis zum kleinlauten Eingeständnis. Auf dem Gesicht seiner Filmpartnerin ringen Neugier und Abscheu miteinander. Sie unternimmt ihre eigenen Recherchen im Milieu.

Die aparte Spanierin Maria (Marisa Paredes) lebt im gleichen Haus wie Mia. Sie wird von ihrer in Hongkong erfolgreichen Tochter unterstützt. Eigentlich lebt auch sie im Elend. Sie versucht dem abzuhelfen, indem sie ihren Landsmann und Altersgenossen Juan nach der Messe dazu bewegt, am Abend zu einem Festmahl in ihrer Wohnung zu erscheinen. Sie reden über die Heimat. Er sagt: „Dort kenne ich niemanden. Ich habe mich auch an die Ruhe gewöhnt.“

Nach einer umständlichen verbalen Ermunterung der Frau bricht aus dem gesetzten Herren für den Augenblick ein unbeholfenes Tier heraus. Auf dem Sofa setzt es stürmische Küsse. Doch zuletzt besinnt er sich auf seine verstorbene Frau, um derentwillen keine neue Verbindung denkbar sei. Mit harten Worten bezichtigt er Maria einer vorsätzlichen Verführung zur Untreue. Als die ihre Enttäuschung mit derselben grausamen Bigotterie gegen Mia wendet, ist auch dieses an sich harmlose Scharmützel zwischen zwei in der Fremde ergrauten Landsleuten in trostloser Dunkelheit versunken.

Weihnachten wird als das Fest der Versöhnung bezeichnet. Gerade an diesen Tagen haben die Menschen gegenseitiges Verzeihen am nötigsten. Leichter als sonst droht aus ihnen hervorzubrechen, was besser beherrscht bliebe. Der gigantische vereiste Tannenbaum in der Halle des Zürcher Hauptbahnhofs ist ein Symbol. An einer Bude erwirbt Mia ein Plüschtier. Absolut billiger Tand für verhältnismäßig viel Geld. Ihr Schicksal zeigt den häßlichen Rest, der sich dort bildet, wohin andere ihre Rückstände bringen. Sie wird abgewrackt, während sich bei den anständigen Leuten die Wellen bereits wieder geglättet haben. Die Ansammlung von Unerfreulichem hakt sich im Gedächtnis fest.

Dieser Film bewirkt weniger eine kathartische Reinigung. Er ist vielmehr eine Abschreckung. Das ist hinsichtlich seines Themas, das immer wieder mit großer Frivolität diskutiert wird, nicht die schlechteste Bilanz. Als die Regisseurin so alt war wie ihre Hauptdarstellerin heute, hat sie Nebeneinkünfte durch sexuelle Simulationen per Telefon erworben. Ihr erster Film, an dem sie über Jahre arbeitete, ist möglicherweise auch ein Abstreifen dieser Erfahrung. Sie sagt über die Recherche, sie hätte „keine Angst, etwas herauszufinden, was ich nicht hatte wissen wollen“. Vorgeblich aufklärerische Reportagen über die Prostitution inszenieren oft effektvoll die dunkle Wirkung eines unheimlichen Bereiches. Durch Petra Volpe wird dieser dagegen restlos und zudem sehr glaubhaft entzaubert.

Foto: Mia (Luna Zimić Mijović), eine bulgarische Prostituierte in Zürich: Verzeihen zu Weihnachten

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