© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  48/14 / 21. November 2014

Austausch über den Schützengraben hinweg
Sammelband über Gentechnik / Viel Pro und wenig Contra / Deutsche als unverbesserliche Romantiker?
Heiko Urbanzyk

In keinem Land der Erde sind die Schützengräben zwischen Befürwortern und Gegnern der sogenannten Grünen Gentechnik so gut befestigt wie in Deutschland. Beide Kriegsparteien wissen jeweils seriöse wissenschaftliche Studien auf ihrer Seite. Gentechnik als Gefahr? Gentechnik als Chance? Alles scheint stichhaltig begründbar zu sein. Doch „[s]owohl Laien als auch Experten akzeptieren Forschungsergebnisse nur dann, wenn sie mit dem eigenen Idealbild von Natur und Umwelt kompatibel sind“, stellen Annette Meyer und Stephan Schleissing fest. Die beiden Geschäftsführer zweier Institute an der Ludwig-Maximilians-Universität München treten als Herausgeber des interdisziplinären Sammelbandes „Projektion Natur“ den Versuch an, diese Gräben zuzuschütten.

Restrisiko vom Gesetz als „sozialadäquat“ eingestuft

Die juristische Grundlage für die Freisetzung von gentechnisch veränderten Organismen (abgekürzt gvO) erörtert die Doktorandin Birgit Lemmen (Universität Passau). Das Gentechnikgesetz (GenTG) spreche der konventionellen, ökologischen und mittels gentechnisch veränderter Organismen betriebenen Landwirtschaft gleichermaßen ihre Berechtigung zu. Diese Technikfreundlichkeit schlug sich in späteren Neufassungen des Gesetzes nieder. Hier sei „dem Wunsch von Wissenschaft und Wirtschaft nach einer Deregulierung Rechnung getragen [worden]. (…) Der Aspekt der Gefahrenvorsorge trat in den Hintergrund, die Sicherung des Technikstandortes in den Vordergrund.“ Das verbleibende Restrisiko der Gentechnik nehme das GenTG als „sozialadäquat“ ausdrücklich hin.

Die Soziologen Bernhard Gill und Michael Schneider (beide LMU München) halten den Einsatz von Grüner Gentechnik sogar in der ökologischen Landwirtschaft für wünschenswert. Sie kritisieren jedoch, daß sich die Grüne Gentechnik in den Fesseln der chemischen Industrie befinde. Es herrsche ein „agro-industrieller Komplex“, in dem sich die Landwirtschaft den Absatzinteressen der chemischen Industrie unterordnen müsse: „Die Produkte werden nicht an die landwirtschaftlichen Bedingungen, sondern die landwirtschaftlichen Bedingungen an die Produkte angepaßt.“

Für Gill/Schneider hat Grüne Gentechnik ihre Daseinsberechtigung erst, wenn sie ohne den Rahmen des agro-industriellen Komplexes überlebensfähig wird und sich für kleinbäuerliche Betriebe als nützlich erweist.

Hiergegen stehen die Ausführungen von Jonas Kathage vom Institut für technologische Zukunftsforschung der EU-Kommission. Die Anwender Grüner Gentechnik seien „zu 90 Prozent Kleinbauern in Entwicklungsländern“. Insbesondere in Indien seien die Auswirkungen der Einführung gentechnisch veränderter (gv) Baumwolle auf die Kleinbauern seit dem Jahre 2001 „umfangreich untersucht“.

Beim Anbau und beim Essen geht es um Identität

Kathage beschreibt eine Erfolgsgeschichte aus höheren Erträgen, höherem Lebensstandard und gesünderen Bauern aufgrund geringeren Insektizideinsatzes. Die von Kritikern ins Feld geführte gestiegene Selbstmordrate unter Bauern, die von der Schuldenlast des Saatguteinkaufs erdrückt würden, verweist Kathage ins Reich der Legenden. Es gäbe überhaupt keine Daten dazu, ob ein Zusammenhang der Selbstmorde zu der gv-Baumwolle bestehe – was anderseits seine Gegenrede auch nicht stützt. Unbefriedigend ist die Tatsache, daß Kathage seinen Lobgesang auf die Errungenschaften der gv-Baumwolle zumeist auf acht bis zehn Jahre alte Studien stützt, die lediglich immer wieder neu aufgegriffen, hochgerechnet oder anders zusammengefaßt werden.

Gleich mehrere Autoren aus Molekularbiologie, Geschichtswissenschaften und Philosophie weisen in ihren Beiträgen darauf hin, daß verschiedene Naturbilder eine fruchtbare Diskussion über den Nutzen der neuen Technologie unmöglich machten. Gerade die Deutschen hingen einer Naturidylle an, die es seit der Industrialisierung nicht mehr gäbe. Ein ökozentrisches Denken, das Mensch und Natur auf eine Stufe stelle, erzeuge Zurückhaltung gegenüber der „unnatürlichen“ Gentechnik. Der Molekularbiologe Reinhard Pröls (TU München) hält dem entgegen, daß eigentlich nichts an der heutigen Landwirtschaft noch natürlich und Grüne Gentechnik der konsequente nächste Schritt ihrer Verwissenschaftlichung sei. Die Ablehnung sei zudem die Folge fehlenden Fachwissens.

Gerade dieses „Defizitmodell“ hält der Bioethiker Christoph Rehmann-Sutter (Universität Lübeck) für unwissenschaftlich und widerlegt. Der Bürger könne sich als Laie sehr wohl eine fundierte, differenzierte Meinung zu solchen Themen bilden. Er und sein Kollege Richard Gusewski (Universität Basel) fanden heraus, daß es beim Essen und somit der Nahrungsproduktion außerdem um Identität gehe. Die Ablehnung der Verbraucher beziehe sich nicht zwingend auf die Technik, sondern sei eine Reaktion auf ihre Bevormundung durch Industrie und Politik.

„Projektion Natur“ ignoriert in seiner bewußten Tendenz pro Gentechnik viele beachtliche Argumente von Gentechnik-Gegnern. Die Deutschen als unbelehrbare Romantiker und Laien abzustempeln lenkt von zentralen Fragestellungen ab. Trotzdem eine fruchtbare Lektüre für jene, die auch mal über den Schützengraben hinweg Zigaretten tauschen.

Annette Meyer / Stephan Schleissing (Hrsg.): Projektion Natur. Grüne Gentechnik im Fokus der Wissenschaften. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2014, 192 Seiten, gebunden, mit Abbildungen, 39,99 Euro

Foto: Baumwollpflückerinnen auf einem Feld im westlichen Indien: Höhere Erträge und gesündere Kleinbauern durch genmanipulierte Pflanzen?

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