© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  49/14 / 28. November 2014

Eisige Blicke auf die „Besatzer“
Besuch im ostukrainischen Slawiansk: Seit der Rückeroberung durch Kiewer Truppen herrscht in der Stadt eine angespannte Stimmung
Billy Six

Slawiansk, die „Slawische Stadt“. Das Metallmonument am Orts-eingang ist übersät mit Einschlagslöchern aus Granatangriffen und Schüssen vom Frühsommer. Die ostukrainische Stadt mit zuvor offiziell 118.000 Einwohnern wurde damals zum Synonym des prorussischen Aufstands im Donezbecken – vor allem wegen der einwöchigen Festsetzung westlicher Militärbeobachter, darunter drei Bundeswehrangehörige.

Ihr Schicksal bewegt hier niemanden. „Glaubst du, wir interessieren uns für fremde Leute, während wir weder Wasser noch Essen haben“, fragt die 27jährige Jennischka erregt. Die Lehrerin zählte von April bis Juli zu den führenden Aktivisten vor Ort, als rechte Hand des in einer „Wetsche“, der traditionellen Versammlung vor dem Lenin-Denkmal gewählten prorussischen Interimsbürgermeisters Wjatscheslaw Ponomarjow.

„Jetzt fühle ich mich wie unter einer ausländischen Besatzung“, so Jennischka mit Blick auf die kampflose Übergabe von Slawiansk am 5. Juli. Wie die Faust aufs Auge paßt die Ankunft eines weißen VW-Lieferwagens mit vier Soldaten aus dem westukrainischen Khmelnitzky. Ein griechisch-katholischer Priester ist als seelischer Beistand dabei. Leger, aber doch freundlich lassen sich die Männer vor dem nun im ukrainischen Blau-Gelb gestrichenen Stadtportal ablichten.

Jennischka empfängt sie mit eisigem Blick. Sie erinnert an „mindestens vierhundert Tote“ während der Rückeroberung ihrer Heimatstadt durch ukrainische Tuppen und hat Igor, einen früheren Polizisten, als Fahrer aufgetrieben. Ziel: die Besichtigung der Kriegsschauplätze.

Soll zwischen uns etwa eine Mauer entstehen?

Besonders im Vorort Symonovka sind großflächige Zerstörungen zu sehen, deren Ausmaß die Vorstellung einer einfachen „Anti-Terror-Operation“ der ukrainischen Streitkräfte übersteigt.

Von einem vermüllten Schützengraben aus zeigt Igor, der „aus Angst vor Verfolgung“ anonym bleiben will, auf eine weiße Halde am Ende der kilometerweiten flachen Felder: „Dort oben standen sie mit ihren Grads.“ Es erscheint seltsam, daß das ukrainische Militär mit seinen sowjetischen Mehrfachraketenwerfern hier zivile Wohngebäude, gar einen Kindergarten und eine Irrenanstalt, getroffen hat. Nicht jedoch die ins Feld gegrabenen provisorischen Unterschlüpfe der „Separatisten“.

Jennischka akzeptiert dieses Wort nicht. „Ihre Jungs“ bezeichnet sie als „Opolschenzi“, die lokalen Wächter. Abtrünnige, so die hochgebildete Aktivistin, seien die Westukrainer. Sie hätten „unser russisches Mutterland verraten“ und den demokratisch gewählten Staatschef Janukowitsch gestürzt, ohne die für 2015 angesetzten Wahlen abzuwarten. Igor ergänzt überzeugt, es handele sich um „Notwehr gegen die EU“.

Drei Argumente führt der Mann mittleren Alters ins Feld, warum die von Kiew angestrebte Mitgliedschaft im Brüsseler Klub nicht im Interesse der 4,3 Millionen Einwohner der Donezker Oblast sei: die Errichtung einer eisernen EU-Außengrenze mitten durch russisches Kulturgebiet, den Wegfall des zollfreien Exports hiesiger Produkte der Kohle- und Stahlproduktion in die Russische Föderation sowie die mangelnde Wettbewerbsfähigkeit des Industriestandorts mit kapitalstarken westlichen Unternehmen.

Doch nicht alle Einwohner wollen der Tradition des lokalen Volkshelden Fjodor A. Sergejew alias „Artjom“ folgen, der in den osteuropäischen Bürgerkriegswirren nach dem Ersten Weltkrieg hier schon einmal eine eigenständige Sowjetrepublik ins Leben rief. Rentnerin Alexandra verweist auf die Verwandten ihres verstorbenen Mannes, der aus der Westukraine stammte: „Soll zwischen uns etwa eine Mauer entstehen? Wer bleibt mir dann noch?“ Immerhin ist es der rüstigen Dame gelungen, ihr zerschossenes Haus zu reparieren – anders als vielen Nachbarn. Hilfe der Regierung habe es keine gegeben, so Alexandra. Die Söhne und gute Freunde hätten mit angepackt. Auf eine ungefragte kleine Spende reagiert sie gerührt, und bekreuzigt ihren Gönner – ein großes, hier noch ernstzunehmendes Zeichen.

Doch auch proukrainische Aktivisten wie der junge Archäologe Nikolay Andrievsky nehmen für sich in Anspruch, „traditionelle slawische und orthodoxe Werte“ zu verteidigen – nicht das „Laissez-faire“ des Westens. Nikolay, der aus dem nordöstlichen Tschernigiw stammt, sammelte über Monate Hilfsgelder für die Soldaten an der Front. Es stimme, so sagt er am Telefon im nahe gelegenen Flughafen Kramatorsk, daß einige Kameraden nicht mal genügend zu essen hätten. Er selbst friere ohne Schlafsack in den frostigen Nächten. Dennoch organisiert er seine Erste-Hilfe-Kurse vorbildhaft.

Aus der Ferne ist das Dauerfeuer der Schießübungen zu hören. Vorbereitungen auf die befürchteten großen Schlachten um die nach wie vor rebellischen Nachbarstädte Donezk und Lugansk. Christian, ein italienisch-kolumbianischer Journalist, berichtet von dort: „Es ist schon bemerkenswert, daß sich heute die ukrainischen Straßenposten maskieren – und nicht mehr die Rebellen.“

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