© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  51/14 / 12. Dezember 2014

Grüße aus Santiago de Cuba
Eine Dogge mit Geweih
Alessandra Garcia

Mein Sohn überraschte mich mit einem Weihnachtsbild. Gut eine Stunde hat er daran gearbeitet: erst ein Entwurf mit dem Kugelschreiber, dann einen zweiten. Schließlich hat er beides in einer farbigen Zeichnung zusammengefaßt: ein blauer Sichelmond mit einem halben Dutzend Wolken, darunter – was besonders viel Arbeit gemacht haben dürfte – gewiß mindestens zweihundert gelbe Sterne.

Mitten durch dieses Sternenmeer zieht eine dicke Dogge mit einem mächtigen Geweih, nein, natürlich soll es ein Rentier darstellen, den mit vielen Geschenken beladenen Schlitten. Auf ihm hockt ein Schneemann mit roter Zipfelmütze. Dieser winkt freundlich zwei anderen Schneemännern zu. Diese haben blaue Augen, orangefarbene Nasen und rote Münder. Sie stehen zwischen einem reich geschmückten Weihnachtsbaum, einem übergroßen, bunt verpackten Paket und einem kerzengeschmückten Tisch.

Das Bild des Kleinen erstaunt mich. Wir hatten noch nie einen Weihnachtsbaum.

Das Bild des Kleinen erstaunt mich. Wir hatten in unserem Haus noch nie einen Weihnachtsbaum. Schnee hat in meiner Familie niemand jemals mit eigenen Augen gesehen. Schneemänner kennen wir nur aus dem Fernsehen, und die abendländische Tradition, zum Weihnachtsfest Geschenke zu verteilen, halten auf Kuba allenfalls noch rein spanischstämmige Familien aufrecht.

Ich bin gerührt und nehme mir fest vor, in diesem Jahr wieder einmal mit dem Kleinen zur Mitternachtsmesse in die große Kathedrale am Cespedes-Platz zu gehen. Zuvor gibt es einen Kindergottesdienst, bei dem die Mädchen und Jungen aus der Jungen Gemeinde die Weihnachtsgeschichte nachspielen. Und im Kirchenvorraum zeigt ein großes Diorama Christi Geburt mit dem Stall in Bethlehem.

Auf den beiden Entwürfen fehlen übrigens noch die Schneemänner. Statt diesen ist ein Mann zu sehen, der einem Kind mit ausgestreckten Armen ein Geschenk überreicht. Das Vorbild für den von einem Rentier gezogenen Schlitten entdecke ich übrigens am nächsten Tag bei 32 Grad Celsius Tagestemperatur auf der Einkaufsstraße „Enramada“ im Schaufenster eines Devisengeschäfts. Allerdings sitzt auf dem Schlitten ein Weihnachtsmann. Der ist aber viel schwerer zu zeichnen als die beiden Kreise für einen Schneemann und schaut auch längst nicht so fröhlich. Und mit bärtigen Männern haben wir Kubaner sowieso nicht die besten Erfahrungen gemacht.

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