© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  51/14 / 12. Dezember 2014

Friedhof geräumt, Fragen bleiben
Besuch am Absturzort von Flug MH17: Auch Monate nach dem Abschuß liegen Wrackteile auf den Feldern in der Ostukraine / Zeugen für Raketenstart gesucht
Billy Six

Es herrscht Totenstille auf den hügeligen Feldern, die durch den Absturz der Boeing 777 von Malaysia Airlines am 17. Juli traurige Berühmtheit erlangt haben. Aus weiter Ferne schallt das dumpfe Dröhnen von Bombeneinschlägen. Ab und an ist Hundegebell zu hören.

298 Insassen, darunter 80 Kinder, kamen hier ums Leben. Lange Zeit sahen sich Ermittler und OSZE-Beobachter nicht in der Lage, auf dem Territorium zu arbeiten, nachdem Vorstöße der ukrainischen Armee mitten ins Rebellengebiet zu schweren Kämpfen geführt hatten.

Heute ist die Front gute zehn Kilometer entfernt. Mitte November wurden die großen Bruchstücke geborgen – und unter Aufsicht ukrainischer Behörden in Zugwaggons nach Charkow gefahren. Per Lastwagen befinden sie sich nun auf dem Weg in die Niederlande, die als Staat mit dem höchsten Blutzoll die Ermittlungsführung an sich genommen haben. Hier soll das Wrack neu zusammengesetzt – und die Absturzursache konkret benannt werden. Das bisherige Ergebnis im vorläufigen Bericht der niederländischen Untersuchungskommission, das zu erkennen gibt, „eine große Zahl energiereicher Objekte“ habe die Pilotenkabine von außen „durchschlagen“, bietet keine konkrete Antwort auf die Frage der Täterschaft (JF 39/14).

Immer wieder fallen die Sauerstoffmasken ins Auge

Besuch vor Ort. Nur ein Taxifahrer erklärt sich bereit, für Normalpreis an die Absturzstelle zu fahren. 20 Kilometer sind es von Tores, benannt nach dem französischen Kommunisten Maurice Thorez, zum Ort des Geschehens. Der Gegenverkehr ist mäßig, doch es gibt auch einen öffentlichen Bus.

„Opolschenze“, die ostukrainischen Rebellen, haben zwei Kontrollposten auf der Strecke. Die jeweils zwei mit Kalaschnikows bewaffneten Kämpfer handhaben die Kontrollen zügig und freundlich. Nach Ankunft auf der linken Nebenpiste, die einen Kilometer weiter zum 500-Seelen-Ort Grabowo führt, tritt der Chauffeur sofort den Heimweg an. Für mehrere Stunden bin ich mutterseelenallein in einer bis zum Horizont reichenden Landschaft aus Äckern und Waldstreifen, die in der Ferne in diesigem Nebel verschwimmt.

Noch immer sind zahlreiche Trümmerteile zu sehen. Am Asphaltrand sind kleinere Stücken zu Haufen zusammengetragen worden, darunter Sitze und Metallplatten. Daneben: eine Fläche verbrannter Erde, Folge der Explosion, die, wie Videomitschnitte und Zeugenaussagen belegten, erst am Boden stattfand. Am Rande der schwarz verrußten Metallreste, bedeckt vom ersten Schnee, behaupteten angesengte Bücherseiten ihren Platz zwischen den toten Grasbüscheln. Immer wieder fallen auch die gelb-weißen Sauerstoffmasken ins Auge, die durch den Druckabfall offenbar noch ordnungsgemäß ausgeworfen wurden.

Nach mehreren Kilometern Fußmarsch offenbart sich, daß das von den Medien gezeichnete Bild einer Wrackzone von 35 Quadratkilometern den außenstehenden Beobachter verwirren muß. Tatsächlich existieren zwei Absturzstellen: Die Pilotenkanzel wurde durch den Beschuß abgetrennt und stürzte wie eine Raumkapsel in die Tiefe. Sie prallte bei Rossypne auf, nur 2,3 Kilometer vom letztbekannten Flugpunkt entfernt. Weitere Bugsplitter kamen im Nachbardorf Petropavlivka nieder. Der Rest der Boeing 777 segelte anschließend wie eine offene Konservendose in die Tiefe. Bei Grabowo schlug die MH17 dann samt Flügeln auf. Die Maschine zerbrach erst unmittelbar vor der Explosion. Der größte Teil der Überreste ging auf einer Linie von gerade mal 400 Metern nieder.

In Kiew marschierten damals noch am selben Abend Hunderte, vielleicht gar Tausende zur holländischen Botschaft, um ihrer Trauer Ausdruck zu verleihen. Berge voll Blumen. Im „UA-Crisis-Center“, dem regierungsnahen Nachrichten-Generator im „Hotel Ukraine“ begann am folgenden Morgen eine koordinierte Informationskampagne. Unter dem bis heute gültigen Motto „Prorussische Terroristen auf frischer Tat ertappt“ gaben sich Geheimdienstchef Naliwaitschenko, führende Militärs sowie Minister und Luftfahrtexperten die Klinke in die Hand. Hunderte Journalisten übertrugen die Stellungnahmen.

Tenor: Die Separatisten hätten mit einer aus Rußland gelieferten „Buk“-Raketenbatterie das malaysische Passagierflugzeug versehentlich vom Himmel geholt, da sie es für ein Militärflugzeug gehalten hätten. Auf eine entscheidende Frage wurde schon damals nicht eingegangen: Wenn „nur Experten“ in der Lage seien, das Flugabwehr-System sowjetischer Produktion zu bedienen, aus welchem Grunde haben diese mit Hilfe des Radars nicht den Unterschied zwischen ziviler und militärischer Maschine feststellen können? Die Frage ist in mehrfacher Hinsicht heikel: Bereits der Absturz von Sibir-Flug 1812 über dem Schwarzen Meer im Oktober 2001 wurde von den Ukrainern zähneknirschend als versehentlicher Abschuß durch eine Boden-Luft-Rakete bei einem Marinemanöver eingeräumt – und später wieder bestritten. Aufgeklärt ist bis heute nichts: Die meisten Trümmer, inklusive Flugschreiber, sind versunken.

Im Fall von MH-17 ist man weiter. Ganz so nichtssagend, wie seine Gegner behaupten, ist der 34 Seiten starke, vorläufige Untersuchungsbericht aus Holland nicht. Das Gerücht, die Luftraumüberwachung von Dnipropetrowsk habe die Maschine bewußt ins Kriegsgebiet geleitet, wurde widerlegt. Die Besatzung selbst bat demnach wegen absehbar schlechten Wetters um ein Abweichen von der regulären Route. Der Abstand betrug am Ende nur 3,6 nautische Meilen. Der Flug hätte so oder so über dem umkämpften Gebiet stattgefunden.

Inzwischen ist es dunkel geworden – und klirrend kalt. Am ersten Haus von Grabowo schenkt Familie T. einen heißen Tee aus. Vater T. war anwesend, als am 17. Juli unvermittelt „der Himmel einstürzte“. Seine Identität möchte er aus Sorge um die Familie nicht veröffentlicht sehen. Nur soviel: Als ehemaliger Angehöriger der Luftabwehr PVO wisse er, daß die „Buk“-Rakete eine Rauchsäule am Himmel hinterlasse. Doch niemand in der Region habe derartiges beobachtet.

„Njet“, bestätigen auch zwei in der Gegend arbeitende Taxifahrer, die viel mit Menschen zu tun haben. Wäre MH17 von einer „Buk“ getroffen worden, so Militärexperte Carsten Bothe gegenüber der JF, dann hätte der Kondensstreifen „bestimmt zehn Minuten am Himmel gestanden“. Außerdem verursache die Rakete, so der ehemalige Bundeswehr-Ausbildungsoffizier, „einen infernalischen Lärm und einen Überschallknall“. Die Oblast Donezk gehört zu den dichtbesiedelten Gegenden der Ukraine. Deshalb kursieren auch mehrere Videos, die am Absturztag spontan aufgenommen wurden. Sie alle zeigen ausschließlich Rauch, der vom Boden aufsteigt. Und auf die versprochenen Satellitenbeweise aus den USA wartet die Öffentlichkeit bis heute.

Eindeutig dokumentiert wurden dagegen Einschüsse im Dach der Pilotenkanzel. Carsten Bothe: „Die Löcher im Cockpitboden sind von innen nach außen gebördelt, das Flugzeug wurde entweder von oben beschossen oder flog auf dem Rücken.“ Auch die Rakete explodiert in einigen Metern Abstand zum Ziel – und verteilt großzügig Metallsplitter.

Donezker Volksrepublik beweint die Opfer“

Am nächsten Tag ist der Wintereinbruch perfekt. Die Einwohner von Grabowo sammeln die verbliebenen Flugzeugreste auf einen Lastwagen. Im Frühjahr soll hier ein neues Leben beginnen können. Bürgermeister Wladimir Berezhnoy: „Eine Delegation ist vor einer Woche gekommen. Sie haben alles genommen, was wichtig war. Den Rest überließen sie uns zur Verwertung.“ Die niederländische Flugsicherheitsbehörde Dutch Safety Board bestätigt diese Angaben in einer telefonischen Anfrage der JF.

Während die Spuren am Tatort verschwinden, bittet Rebellenkämpfer Nikolay in seinen tarnfarbenbemalten Geländewagen. „Ich zeig dir was“, sagt der 38jährige, der vor dem Krieg Bauleiter gewesen ist. Bewaffnet mit Kalaschnikow, Panzerfaust und mehreren Handgranaten fährt er nach Snischnoje (Snezhnoe), eine Kleinstadt einige Kilometer weiter. „Am 15. Juli“, so führt er aus, „hat uns die ukrainische Armee hier aus der Luft bombardiert.“ Ein großes Wohngebäude – aufgerissen wie ein erjagtes Tier. Das war zwei Tage vor MH17. Nikolay und sein Freund Alexej haben Freunde und Verwandte hier. Keiner verstehe den Sinn dieser Attacke. Der angreifende Jet sei „im Tiefflug auf die Zivilbevölkerung gestürzt“. Unmittelbar südlich von Snischnoje soll nach Angaben der US-Regierung am 17. Juli die „Buk“-Rakete abgefeuert worden sein.

Daß an jenem Tag eine „Buk“-Abschußrampe per Lkw durch die Region transportiert wurde, haben Recherchen der britischen Blogger von Bellingcat.com glaubwürdig mit Bild- und Kartenmaterial aus dem Netz nachgewiesen. Das investigative Portal ist die einzig bekannte Seite, die im Rebellengebiet gesperrt und nur über einen freien „Proxy-Server“ zu erreichen ist. Dabei hat auch Bellingcat den Abschuß nicht nachweisen können.

„Wir waren es auch nicht“, insistiert der Chefvernehmer beim Nachrichtendienst von Nikolays Gruppierung, dem „Bataillon Wostok“. Alle 30 Flugobjekte der Ukrainer, die sie vom Himmel holten, hätten sich in Sichtweite befunden, so der 66jährige mit Tarnnamen „Schachtjor“. Bei der verwendeten Waffe habe es sich um „Peserka“ gehandelt, Ein-Mann-Boden-Luft-Raketen. Mit den neuen kommen wir bis zu fünf Kilometer hoch“, so Schachtjor.

„Es war eine Provokation“, davon sind viele Einwohner im Aufstandsgebiet überzeugt. Der Feind habe MH17 mit einem Jagdflieger abgeschossen, um den Vorfall den Rebellen anzulasten. Zeugen gebe es dafür angeblich „Hunderte“. Doch keiner läßt sich auf die Schnelle finden. Daß der Vorgang in über 10.000 Metern Höhe durch die leichte Wolkendecke hindurch vom Boden aus zu sehen gewesen sein soll, läßt sich allerdings schwer vorstellen.

Im Donezker Verwaltungsgebäude, mit dessen Besetzung im April der Aufstand im Donbass begonnen hatte, hängen Trauerplakate: „Die Donezker Volksrepublik beweint die Opfer der Katastrophe von Boeing 777 der Malaysia Airlines, die als Ergebnis eines Kriegsverbrechens der ukrainischen Armee starben.“ Eine eigene Untersuchungskommission, das stellt sich nach Gesprächen im Pressezentrum sowie beim Abwehrdienst des Bataillons „Wostok“ heraus, haben die Rebellen auch nicht. Die bisher vorgetragenen Erklärungen reichen nicht, um die 30 Millionen Euro einzukassieren, die von Unbekannten als Kopfgeld bei der deutschen Detektei „Wifka“ hinterlegt worden sein sollen.

Foto: Bürgermeister Wladimir Berezhnoy bei der Trümmerbeseitigung Richtung „ Recyclinghof“ (o.), Rebellen-Straßenposten (r.) und Teile des Trümmerfeldes : Nach Auskunft des niederländischen Dutch Safety Board ging alles mit rechten Dingen zu

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