© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  52/14 - 01/15 / 19. Dezember 2014

Pankraz,
Volker Gerhardt und der Sinn des Sinns

Hat diese Sache überhaupt einen Sinn? So fragen wir fast täglich bei vielen Gelegenheiten. Wir sind nicht zufrieden damit, daß wir über die fragliche Sache eine Menge wissen; zum Wissen tritt vielmehr stets die Frage nach dem Sinn, und bei weitem nicht immer handelt es sich dabei um bloße Fragen nach praktischer Anwendbarkeit.

Hat diese Sache, um deretwillen wir uns so viel Wissen erworben haben, denn einen Sinn? So wird weiter gefragt, gerade in „besinnlichen“ Tagen, wie sie uns jetzt die „stille Woche“ zwischen Weihnachten und Neujahr wieder beschert. Die Frage nach dem Sinn des Ganzen erhebt sich, sowohl in Weihnachtspredigten wie in Jahresendabrechnungen, wo hoffnungsvoll oder besorgt in die Zukunft geschaut wird und wo man der Toten des abgelaufenen Jahres gedenkt. Was war der Sinn des Lebens jener abgetretenen Existenzen? Was ist der Sinn des Lebens?

Sehr zupaß kommt bei solchen Nachdenklichkeiten ein Buch des Berliner Philosophen Volker Gerhardt (70), das soeben im Verlag C.H. Beck in München erschienen ist: „Der Sinn des Sinns“ (357 Seiten, 29,95 Euro). Wenn das Wissen den Sinn weder ersetzen noch haltbar einordnen kann, so Gerhardt, wie können wir ihn dann überhaupt als Teil und Raum unserer Existenz wahrnehmen? Aus den Sinnen in der herkömmlichen physiologischen Bedeutung stammt er nicht, wir können ihn weder sehen noch hören, weder riechen noch schmecken und nicht einmal spüren, so wie man etwa einen Elektroschlag spürt.

Trotzdem prägt er unser Dasein, bestimmt unsere Menschlichkeit. Tiere kennen die Frage nach dem Sinn nicht; sie können zwar, außer sehen, hören, riechen, schmecken und spüren, durchaus auch denken, also vom einen aufs andere schließen, logifizieren, Werkzeuge zur Lebensverbesserung herstellen, aber über Sinn und Bedeutung ihres Lebens und Daseins nachdenken können sie nicht, tun es jedenfalls nicht, so wie wir Menschen im Alltagstrubel und auf niedrigem Reflexionsniveau ja auch nicht dauernd über den Sinn des Sinns nachdenken.

Nachdenken über den Sinn ist „Feiertagsbeschäftigung“. Sie erfordert Zeiteinschnitte, Gedenktage, privilegierte Räumlichkeiten für die Nachdenkenden wie etwa Kirchen oder klosterartig abgeschirmte Oberseminare sowie den Willen aller Beteiligten zu innerer Einkehr und gediegendsten Gesprächsregeln jenseits allen Wortgetümmels und Politgeschreis. Nur so, sagt Professor Gerhardt, läßt sich die Frage nach dem Sinn wenigstens einigermaßen „rationalisieren“, das heißt in überzeugender Weise versprachlichen und unter den Schatten der Wahrhaftigkeit rücken.

Es sei nicht verschwiegen, daß die bisherige Rezeption des Gerhardt-Buches recht nörgelig war. Gerhardt galt bisher eher als „links“ und beschäftigte sich vorzugsweise mit den gängigen politologischen Themen, so mit der notwendigen und trotzdem mangelnden „Transparenz“ in der demokratischen Öffentlichkeit oder mit den sich wandelnden Formen der politischen Partizipation. Daß er jetzt plötzlich mit einem Band über Bezirke der „Göttlichkeit“ kommt, nehmen ihm manche Leser richtig übel.

In der Neuen Zürcher Zeitung beispielsweise mäkelte Otto Kallscheuer, der Text von Gerhardt biete „weder Fisch noch Fleisch“. Es werde an keiner Stelle deutlich, ob sich der Autor nun an Ungläubige oder an seinesgleichen („Vernunftgläubige“) wende. Offenbar wolle er es mit keiner Seite verderben. So wie er hier, schreibe jedenfalls kein Angehöriger jener illustren, von Platon bis Kant reichenden und es existentiell bitter ernst nehmenden Glaubensdenker des Abendlands, allenfalls ein Abkömmling des aufgeklärten Juste milieu, welches ja in den letzten Dezennien mächtig verunsichert worden sei.

Pankraz seinerseits hält Gerhardts Buch für ein überwiegend wohltuendes Ereignis, das sehr gut in die stille Woche zwischen Weihnachten und Neujahr paßt. Ob jemand für „Ungläubige“ oder für „Vernunftgläubige“ schreibt, ist doch gänzlich unerheblich. Hauptsache, er schreibt gut und überzeugend und meint es ernst. Und daß Gerhardt es ernst meint, sogar bitter und unerbittlich ernst, darüber kann kein Zweifel bestehen; ob er auf jeder Seite gut und überzeugend schreibt, darüber läßt sich gegebenenfalls streiten.

Originalton Gerhardt: „Daß Glauben und Wissen Gegensätze sind, mag in einzelnen Fällen so sein: Die biblische Schöpfungsgeschichte ist mit dem, was die moderne Wissenschaft über den Urknall spekuliert, nicht ohne weiteres vereinbar. Das gleiche gilt von dem, was uns die Evolutionstheorie zu denken gibt. Daraus darf aber nicht gefolgert werden, daß dort, wo einer zu wissen glaubt, gar kein Glaube mehr nötig sei. Im Gegenteil: Man muß bereits an das Wissen glauben, wenn man sich ihm anvertraut. Und dort, wo es endet, sind wir augenblicklich auf den Glauben angewiesen.“

Glaube und Wissen, so die Quintessenz des Buches, schließen sich nicht gegenseitig aus, sondern fordern sich, um mit Gerhardt zu sprechen, gegenseitig heraus. „Das beginnt schon mit unseren Plänen für den nächsten Tag und setzt sich in allen Erwartungen fort, die wir an unser Leben, die Politik, die Kultur oder die Zukunft überhaupt stellen.“ Wir nehmen uns, ausgerüstet mit unserem Wissen, dies oder das vor – ob wir aber die Gelegenheit dazu kriegen und ob es uns gelingt, das wissen wir nicht. Wir müssen buchstäblich daran glauben und darauf hoffen.

Allein unser Glaube und unser Hoffen machen uns verläßlich und strapazierfähig, ja, machen uns überhaupt erst zur menschlichen Person sui generis, Um noch einmal Volker Gerhardt zu zitieren: „Erst im praktizierten Bewußtsein des Glaubens nimmt die Person die Welt auch von innen her wirklich an, um mit sich und mit ihr einig zu sein. Gott ist dann die personal verstandene Einheit, in der das Ganze der Welt und das Ganze der Person einander wechselseitig bedingen.“

Eine vielleicht etwas umständliche, aber doch Herz und Hirn ergreifende Formulierung!

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