© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  52/14 - 01/15 / 19. Dezember 2014

Leben als farbiger Traum
Eskapaden der Phantasie: Robert Guédiguians Filmmärchen „Café Olympique“
Sebastian Hennig

Der Regisseur Robert Guédiguian macht ein regionales, eigentlich fast schon familiäres Kino. In den Mittelpunkt rückt er stets seine Frau Ariane Ascaride sowie ihrer beider Geburtsort Marseille. In der verspielten Gemütlichkeit von „Café Olympique – Ein Geburtstag in Marseille“ wird die Eigenheit von Land und Leuten zu einer allgemeinen Aussage über den Menschen an seinem Ort. Ariane irrt durch das Labyrinth des Lebens. Zugleich spinnt sie dabei den Faden, der diejenigen aus ihrer Verwirrung herausführt, die ihr folgen. So wird „Café Olympique“ zu einer ritterlichen Hymne auf die Stärke des schwachen Geschlechts. Bei alledem bleibt der Film träumerisch verspielt und schwingt sich niemals zu didaktischen Thesen auf.

Bevor die phantastische Handlung fast zu bunt wird, zeigt ein Prolog die Sterilität der urbanen Kulisse. Die Kamera streift über geweißte Straßen und Häuser. Alles ist farblos, hell und fahl. Gestalten und Fassaden haben kein Gesicht. Sie sind neutrale Raumfüller, wie auf der Simulation eines Stadtplaners. Sobald die Kamera ins Innere vordringt, wird es dann farbiger.

In der komfortablen Küche bereitet Ariane ihre riesige Geburtstagstorte. Statt der erwarteten Gäste empfängt sie eine Blumensendung und eine Absage nach der anderen. Da wendet sie sich von der Torte mit den brennenden Kerzen ab, zieht die Wohnungstür hinter sich zu und fährt mit dem Kleinwagen gen Süden.

Doch auch das Auto – letzte Hülse des Komforts – läßt sie zurück, als sie von einem jungen Mann auf dem Motorroller abgeschleppt wird. Der setzt sie schließlich im „Café Olympique“ ab, einem schmucklosen Lokal am Meer. Dort bleibt sie länger hängen, als zum Verzehr ihrer Mahlzeit nötig ist. Es glückt ihr nicht, von dort wieder loszukommen. Aus dem Alltag auszubrechen, bedeutet in einen anderen Alltag einzubrechen. Als Serviererin hilft sie, Busladungen von älteren Reisenden zu bedienen. Sie versöhnt ein junges Paar miteinander, hilft die Sehnsüchte des afrikanischen Nachtwächters stillen und rettet zuletzt eine Theatervorstellung. Damit bewahrt sie sich immer auch etwas von sich selbst, tut sich selbst Genüge.

Im „Café Olympique“ hängt ein großes Plakat-Porträt des Sängers Jean Ferrat. Fünf seiner Lieder durchfließen den Film wie eine frische Blutzufuhr und unterstreichen die Stimmung. Der mürrische Café-Inhaber Denis (Gérard Meylan) legt die Schallplatten auf. Seine betagten Speisegäste stimmen im Chor ein in die Verse über die Weisheit des schlichten Lebens. So gibt im Film die Tristesse des Alltags den Humus, auf dem Blüten jeder Hoffnung sprießen. Im Innewerden ihrer Hilflosigkeit werden sich die Menschen spontan gegenseitig hilfreich und wohltuend.

Youssouf Djaoro spielt den kauzigen Nachtwächter, der sein Gnadenbrot beim Café verdient. Tagsüber verkauft er Souvenirs, die, wie er sagt, an ihn selbst erinnern sollen. Der tschadische Schauspieler spielte vor einigen Jahren die Hauptrolle in dem Bürgerkriegsdrama „Der Mann, der schreit“. Hier nun ruft er des Nachts auf seiner Pritsche inmitten einer gebastelten afrikanischen Landschaftskulisse herzzerreißend nach seinen Lieblingen „Inez!“ und „Octave!“. Als Wärter hatte er die Tiere im wegmodernisierten Zoologischen Garten im Palais Longchamps bewacht.

Das ist so schmerzlich-grotesk, wie der Pseudo-Amerikaner Jack (Jacques Boudet). Der zitiert aus seinem Notizbuch Weisheiten, die in Wirklichkeit von Pasolini oder Tschechow stammen. „Liebe: das zu geben, was man nicht hat, einem, der es nicht will.“ Die junge Lola (Lola Naymark) prostituiert sich lieber, als mühselig für Lohn zu schuften. Ihr Liebhaber schlägt sie aus Eifersucht nieder. Ariane ohrfeigt ihn dafür und macht ihn von der Böschung hinter dem Strand auf die unabweisbare Schönheit der Geliebten aufmerksam. Wie die nackt aus dem Meer steigt, sich unbefangen ausstreckt, den Blick instinktiv auf ihrer Haut zu spüren beginnt, aufschreckt und sich schließlich behaglich wieder hinbreitet, das ergibt eine klassische Szene für das Lexikon des erotischen Films.

Unaufdringlich jongliert der Film mit launigen Anspielungen aus Klassikern des Kinos. Nach dem nächtlichen Einbruch in das zur Drehzeit tatsächlich rekonstruierte Naturkundemuseum badet Lola wie Anita Ekberg in Fellinis „La Dolce Vita“ im großen Wasserbecken vor dem Palais. Auf eine surreale Seebestattung der erbeuteten Spiritusgläser mit den zoologischen Präparaten folgt ein Schiffbruch im Seesturm. Am Morgen erwachen die Gescheiterten auf dem Strand der Insel Frioul. Dort gipfelt das Geschehen in einer Varieté-Nummer im antiken Theater. Im Arrangement der Pariser Electro-Tango-Gruppe Gotan Project und auf französisch gesungen eröffnet das Lied von Kurt Weill und Bertolt Brecht „Wie man sich bettet, so liegt man“ eine ganz andere Perspektive. Die Auflösung der Handlung in ein Traumgeschehen wäre nicht nötig, um die Rätsel der Handlung durchschaubar zu machen. Sie ist ein Kunstgriff, der die Eskapaden der Phantasie zum Bogen rundet.

Das letzte Wort hat eine sprechende Schildkröte: „Die Träume sind einfach aus unserer Welt verschwunden, und das bedauere ich.“ Nach dergleichen Filmträumen jedenfalls reibt man sich gern die Augen und schaut wieder frischer in die wintergraue Welt.

Kinostart ist am 25. Dezember

Foto: Ariane im Café Olympique in Marseille: Tristesse des Alltags als Humus, auf dem Hoffnung sprießt

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen