© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  52/14 - 01/15 / 19. Dezember 2014

Bedürfnis nach Sinnstiftung
Dichter im Ersten Weltkrieg: Vergessene Schriftsteller wie Heinrich Lersch, Ernst Thrasolt und Ina Seidel verdienen eine neue Rezeption / JF-Serie, Teil 2
Felix Dirsch

Der literarische Aufbruch 1914 läßt sich nicht zuletzt auf das Bedürfnis der Sinnstiftung des Lebens zurückführen. Da breitere Schichten des Volkes den Wunsch nach einer tieferen metaphysischen Fundierung des Daseins, nach einer kathartischen Reinigung verspürten, ist leicht zu erklären, warum sich unzählige Menschen poetisch betätigten, die vorher kaum oder gar nicht auf diesem Gebiet aktiv waren. So entstand eine große Fülle insbesondere von Gedichten, aber auch von Prosatexten.

Zwar beteiligten sich auch namhafte Dichter wie Rilke oder Hesse an der schriftstellerischen Glorifizierung der militärischen Ereignisse. Die Szene wurde aber überwiegend von reputationslosen Geistern, teils aus unteren sozialen Schichten, dominiert. Zu diesen zählte auch der 1889 geborene Heinrich Lersch. In seiner Vaterstadt Mönchen-gladbach umwarben sowohl katholische Gewerkschaften als auch sozialistische die Arbeiter. Der junge Lersch, im katholischen Milieu aufgewachsen und in weltanschauliche Konflikte früh involviert, erlernte den anstrengenden Beruf des Kesselschmieds. In seinem Œuvre verarbeitete er Leid und Entbehrungen der jahrlangen Plackerei.

Was die germanistische Forschung als „Interferenz weltanschaulicher Formationen im Werk des Arbeiterdichters Heinrich Lersch“ (Ralf Georg Czapla) bezeichnet, ist biographisch gesehen bemerkenswert. Lersch blieb, trotz mancher proletarisch-säkularer Einflüsse, seiner katholischen Herkunft treu und wurde in den 1920er Jahren von dem Berliner Großstadtseelsorger Carl Sonnenschein gefördert.

Der bereits in jungen Jahren erkrankte Autor suchte zunehmend Auswege aus seiner schwierigen finanziellen Situation, und auch deshalb setzte er nach 1933 die Hoffnung in die neuen Machthaber, die jene Verbesserungen für die Arbeiter herbeiführen sollten, die Sozialisten und Katholiken nur versprochen, aber nicht umgesetzt hatten. Diese Option dürfte der Grund für den jähen Rezeptionsabbruch des zu Lebzeiten bekannten Dichters sein, dessen letzten Weg 1936 immerhin weit über Hunderttausend Menschen verschiedener politischer Überzeugungen begleiteten.

Bereits im ersten Kriegsjahr machte sich Lersch, dessen Texte einen expressionistischen Einschlag erkennen lassen, einen Namen und hob sich aus der schieren Masse der (Möchtegern-)Lyriker hervor. In Windeseile verbreitete sich sein Gedicht „Soldatenabschied“, das mit den vielzitierten Versen beginnt: „Laß mich gehen Mutter, laß mich gehen! / All das Weinen kann uns nichts mehr nützen, / denn wir gehen, das Vaterland zu schützen! / Laß mich gehn Mutter, laß mich gehn. / Deinen letzten Gruß will ich vom Mund dir küssen: / Deutschland muß leben, und wenn wir sterben müssen!“

Die Gedichte zeigen eine enge Verbindung von nationalem und christlichem Gedankengut. Besonders ergreifend sind die Zeilen des Gedichts „Im Schützengraben“, die dem „Kamerad Franzos“ die ewige Seligkeit verheißen, wenn dieser fallen sollte. Der Soldat Lersch selbst erfuhr den existenziellen Gehalt solcher Anspielungen, als er mehrmals nur knapp dem Tod entging.

Priesterkandidat mit poetischer Ader

Noch stärker als Lersch, über den in jüngster Zeit wenigstens einige Beiträge erschienen sind, ist Ernst Thrasolt der kollektiven Amnesie verfallen. Auch in literaturwissenschaftlichen Standardwerken, etwa im „Killy“, findet man nichts mehr über ihn.

Als Matthias Josef Tressel ist der katholische Geistliche, der später unter dem Namen Ernst Thrasolt in die Literaturgeschichte einging, 1878 in eine arbeitsame, fromme Familie an der unteren Saar geboren. Schon als Priesterkandidat war seine poetische Ader bekannt. Es stellte sich als nicht immer leicht heraus, beide Berufungen miteinander zu verbinden.

Thrasolt wirkte nach seiner Kaplanszeit als Pfarrer. Daneben schrieb er nicht nur eifrig Gedichte – 1911 wurde er erstmals dafür ausgezeichnet –, sondern gründete auch die Zeitschrift Das Heilige Feuer. Das Programm des Periodikums war durchaus kämpferisch. Es hatte nach Ansicht des Herausgebers die Aufgabe, der „sittlichen und nationalen Entartung und dem Verfall“ entgegenzuwirken. Ein roter Faden seines Werks ist die Unruhe des Menschen vor Gott. Sie zeigt sich besonders in den „Gottliedern“.

Auf eine harte Prüfung wurde Thrasolt im Nationalsozialismus gestellt; seine Werke waren teilweise verboten Anfang 1945 starb er in Berlin. Einige Wochen vorher noch zerstörten Bomben seine Wohnung. Wertvolle Manuskripte verbrannten bei dieser Gelegenheit.

Für den heutigen Zeitgenossen mag es merkwürdig klingen, wenn Thrasolt 1915 „Geistliche Kriegslieder“ publizierte. Sie wollten insofern bewußtseinsbildend wirken, als sie an die geistlichen Kampfespflichten des Soldaten (gegen den Teufel) erinnern, aber auch an die irdischen. So kommen nicht nur Begriffe wie „Sieg“ und „Feind“ vor, es wird auch auf das Elend des Soldaten auf der anderen Seite hingewiesen.

Thrasolt schreibt im Vorwort der Sammlung, daß er die Schwierigkeit eines solchen Projektes kenne, werde doch um der Einheit willen auf partikulares Gedankengut, etwa katholisches, gern verzichtet. Aus der „Deutschen Kriegs-Singmesse“ sei die erste Strophe zitiert: „Herr, aus wilden Kriegesnöten / Kommen, schreien wir zu dir! Laß uns nicht vor’m / Feind erröten, Auf dich bau’n und trauen wir. / Denk, o Herr, an dein Erbarmen, Ewig hast du / uns gemeint, Aus der Drangsal hilf uns Armen, / Laß frohlocken nicht den Feind!“

Mögen derartige Texte nach einem Jahrhundert fremd klingen, so ahnt man auch in der Gegenwart etwas von dem existentiellen Pathos, das der damaligen Lage wohl angemessen war.

Interpreten vermißten pazifistische Aussagen

So lange ist es noch nicht her, daß Ina Seidel Konjunktur hatte. Besonders Romane wie das Erfolgsbuch „Wunschkind“, an dem sie seit 1914 gearbeitet hatte, wurden nach 1945 viel gelesen. Kritiker schrieben den zeitweiligen Erfolg der 1885 in Halle geborenen Autorin der Tatsache zu, daß sie dem angeblich restaurativen Geist der fünfziger Jahre ein Sprachrohr gab.

Diese Zeit ist schon lange vorbei. Heute beschäftigt sich nur ein kleiner Teil der Germanisten mit ihrem Œuvre. Ein Schwerpunkt der Auseinandersetzungen der Fachwelt besteht natürlich in der Thematisierung mancher Äußerungen im Dritten Reich. Da nützte es ihr auch nichts, daß die Arzttochter nach dem Zweiten Weltkrieg versuchte, ihr Verhalten zu erklären und (wo nötig) zu entschuldigen.

Unstrittig ist, daß Ina Seidel schon früh neben ihrer christlichen Grundprägung eine nationale an den Tag legte. Das belegen die Gedichte im Ersten Weltkrieg. Wie bei anderen Autorinnen und bekannten weiblichen Gestalten der damaligen Zeit – man vergleiche nur die Haltung der Frauenrechtlerin Lily Braun oder die von Ricarda Huch! – vermißten spätere Interpreten pazifistische Aussagen.

Die Gedichte der fast Dreißigjährigen waren durchaus nicht alle euphorisch. So hieß es 1914 in einer Strophe: „Deutschland starrt im Waffenglanze, / Deutschland grollt im Ungewitter, / Brot wird hart und Liebe bitter, / Tränen keltern wir statt Wein. / Trommeln laden ein zum Tanze, / Und der Tod, der dürre Ritter, führt den Reih’n.“

Neben einer patriotischen Ausrichtung finden sich Hinweise auf die tiefe Frömmigkeit der Gattin eines protestantischen Pastors. So heißt es in einer Strophe im „Gebet vor der Schlacht“: „Der Witwen und der Waisen Not, / Der kleinen Kinder Schrei nach Brot, / Der schwachen Kreise siecher Tod / Schlägt auf zu dir wie Rauch.“

Wie bei Ina Seidel findet sich auch bei den meisten anderen anspruchsvollen Vertretern der Kriegsdichtung viel Besinnliches und Nachdenkliches, öfter durchaus auch für heutige Lektüre geeignet. Als Kriegspropaganda kann nur das wenigste abgestempelt werden, obwohl heutige Kritiker meist anderer Meinung sind.

Der dritte und letzte Teil der Serie erscheint in der kommenden JF-Ausgabe 2/15 und widmet sich den Schriftstellern Walter Flex und Hermann Löns.

Foto: Ina Seidel (1958): Christliche und nationale Grundprägung

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