© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  52/14 - 01/15 / 19. Dezember 2014

Die Dimension erwandern
Schatten der Vergangenheit: Sven Daubenmerkls Prosa über Verdun
Andreas Zöllner

Die Ansiedlung der österreichischen Schwarzkiefer läßt das zerschundene Gelände um Verdun langsam wieder zu einer Landschaft werden. Elf markierte Wanderwege durchziehen das einstige Schlachtfeld. Aus einem zeitlichen Sicherheitsabstand zum Jahrestag des Krieges hat der ober-österreichische Schriftsteller Sven Daubenmerkl 2008 hier eine Wanderschaft angetreten. Es war zugleich das Jahr, in dem der letzte deutsche Kriegteilnehmer verstorben ist.

„Wandern in Verdun“ ist der Bericht vom zweisamen Gang durch eine historische Landschaft in ihrer gegenwärtigen Beschaffenheit. Das Gefühl der Fremdheit im Ausland, die wechselnden Witterungsverhältnisse und die Eigenheiten der Provinz geben ihm seine Färbung. Als ein Capriccio ist die Erinnerung an einen früheren Besuch in Verdun eingefügt. Damals verfehlten die Freunde den Campingplatz und errichteten ihr Zelt neben einem Zigeunerlager. Vom Besuch der Gedenkstätten blieb die Erfahrung zurück: „Keine Ressentiments. Kein Deutschenhaß. Einfach: Ja, so war es, so ist es gewesen. Das hatte mich im Sommer 1985 beeindruckt.“

Diesmal ist der Autor mit einer fotografierenden Gefährtin unterwegs. Sie nimmt die Schatten der Vergangenheit auf und die einer Gegenwart, welche immer etwas gespenstisch wirkt neben soviel Geschichte. Zudem gibt sie dem Berichterstatter mit ihrer unerschütterlichen nüchternen Anwesenheit den nötigen Rückhalt, damit er sich nicht an die saugende Aura des Ortes verliert. Selbstironisch sieht der Spaziergänger sich inmitten eines makabren Freizeitparks. „Ich setzte mich auf eine der Beobachtungskuppeln und sah mich nach ihr um. Sie hatte weiter vorn eine alte Rolle Stacheldraht entdeckt und mühte sich nun ab, das rostige Symbol zu fotografieren.“ Zehn Fotografien von Gertrud Hofer sind im Anhang wiedergegeben.

Die Schatten der Vergangenheit längen und verdichten sich, je weiter der Betrachter vom Ort und der Zeit des Geschehens entfernt ist. Der Klang der Namen wiegt dann schwerer, weil alles in ihn eingegangen ist. Das Buch läßt den Leser erfahren, wie sich historisches Wissen vor Ort in unmittelbarer räumlicher Erfahrung weitet und zerstreut. Vom Abschreiten des großen Soldatenfriedhofs von Douaumont bleibt dann mehr zurück als die nackte Zahl von zwanzigtausend Gräbern. Der Autor imaginiert auf seinen Pfaden durch das Schlachtfeld das Erleben der Soldaten: „Hinter der Stadt verschwinden plötzlich die Farben. Es geht schlagartig, übergangslos. Nun besteht die Welt nur noch aus Grautönen. Das Verschwinden der Farben wirkt sich auf deine Kameraden aus. Kaum einer redet.“ Die heutige Beschaffenheit der Landschaft führt wie eine gigantische Totenmaske die verblichenen Züge des Ereignisses in jeder Falte mit sich. „Darum sehen wir heute so viel davon: Weil es kein Ende nehmen wollte.“

Einheimische zelebrieren eine Kranzniederlegung

Der Autor hat zuvor nicht nur viel zum Thema gelesen. Er hat bereits einiges dazu geschrieben. Der Krieg beschäftigt ihn in mancherlei Gestalt schon lange. Der historische Roman „Forscher Geist“ (2000) setzt die Protokolle von Farm Hall in Beziehung zum Atombombenabwurf auf Japan. Auf dem englischen Landsitz wurden die deutschen Atomforscher nach Kriegsende interniert und belauscht. Für die Recherche sprach der Autor noch mit Carl Friedrich von Weizsäcker. Die Novelle „Vom Kriege“ (2002) schildert eine Szene aus dem aufständischen Wien von 1848, die er listig mit Clausewitz-Zitaten durchsetzt hat.

In der Mitte des Verdun-Buchs werden die Motive der Reise ausgesprochen. Der Autor fragt seine Begleiterin: „‘Was genau suchen wir hier?’ Sie öffnete nicht ihre Augen. Das Gesicht weiter auf die Sonne gerichtet, sagte sie bloß: ‘Die Dimension.’ Und damit hatte sie recht. (…) Wer eine realistische Vorstellung von einer der schrecklichsten Schlachten der Geschichte bekommen will, der muß ihre Dimension erfahren, ihr Ausmaß erfassen. In Verdun geht das. In Verdun kann man sich die Dimension erwandern.“

Die Reisenden befinden sich offenbar allein mit dieser Absicht. Denn die ostfranzösische Kleinstadt ist frei von Touristen. Dafür sind die Einheimischen hinreichend mit der Aura des Ortes beschäftigt. Eine Kranzniederlegung wird mit Hornsignalen, Regimentsfahnen und Soldatendarstellern zelebriert. In einer Bar werden sie zufällig zu Zeugen des Ausgangs der Kommunalwahlen. Der Bürgermeister hat sich mit den Honoratioren versammelt, um seinen Sieg zu feiern.

Diese belletristische Berichterstattung aus Verdun ist mehr als eine journalistische Reportage. Wenn Daubenmerkl auch auf markierten Routen läuft, so geht sein Erzählen doch eigensinnige Wege. Während einer sehr persönlichen Ortsbegehung bringt er die Ereignisse näher als die chronistischen Überlieferungen es vermögen. Der Autor benennt fünf Stufen für das Absterben der Erinnerung, ausgehend vom Bericht der Augenzeugen und bis zur gegenwärtigen Trivialisierung: „Danach ist es vorbei. Was dem Erinnern folgt, ist das Vergessen.“ In Verdun ist längst Gras gewachsen. Daubenmerkls Prosa hält die Erinnerung für eine weitere Weile fest.

Sven Daubenmerkl: Wandern in Verdun. Prosa. Arovell Verlag, Gosau/Salzburg/Wien 2013, broschiert, 153 Seiten, 12,90 Euro

Foto: Fortgürtel der französischen Festung Verdun: Die Schatten der Vergangenheit längen und verdichten sich, je weiter der Betrachter vom Ort und der Zeit des Geschehens entfernt ist

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