© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  52/14 - 01/15 / 19. Dezember 2014

Religiöse Sinnstiftung
Halt in den Zeiten
Felix Dirsch

Es muß feste Bräuche geben“, erklärte der Fuchs dem kleinen Prinzen, als dieser sich bei dem Versuch der Zähmung des Fuchses unbeholfen anstellte. Im Verlauf des bekannten Dialoges in Antoine de Saint-Exupérys Welterfolg „Der kleine Prinz“ wird klar, welche Gründe für diese Notwendigkeit vorliegen. Angesichts der Tatsache, daß die zivilisatorische Dynamik schon seit langer Zeit einen erheblichen Druck auf überlieferte Rituale und Gepflogenheiten ausübt, überrascht die Antwort des Fuchses nicht. Er betrachtet Bräuche als eine in Vergessenheit geratene Sache, die aber gleichwohl, häufig unbewußt, unser Leben strukturieren. Sie sorgen dafür, daß der eine Tag vom anderen unterschieden werden kann, ebenso die eine Stunde von der anderen. Kurz: Der Öde der langen Weile, die durch gleiche Tages- und Lebensabläufe immer wieder in unser Leben einfällt oder einzufallen droht – Heideggers dementsprechende Phänomenologie in „Sein und Zeit“ ist bis heute unübertroffen – wird durch Bräuche ein Stück weit entgegengewirkt. Diese sind ein wesentliches Element der Sinnstiftung des menschlichen Daseins.

Brauch zeigt schon deshalb eine gewisse Korrelation zum Religiösen, weil Sitte und Sittlichkeit miteinander verbunden sind. Letztere ist in ihrer Genese nicht ohne religiöse Einflüsse denkbar, mögen diese im konkreten Kontext noch so verschieden ausfallen.

Die anthropologischen Hintergründe habitueller Abläufe liegen auf der Hand. Wohl nur der Mensch entwickelt ein genaues Zeitgefühl, das in der Lage ist, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu unterscheiden. Er weiß um die einschneidenden Ereignisse seines Lebens und kann sie reflektieren: Geburt, Tod und den mehr oder weniger langen Zeitraum zwischen diesen beiden Ereignissen.

Die Erhellung der Sinnhaftigkeit menschlicher Existenz wird maßgeblich durch den Versuch erreicht, die Tiefendimension der Geschichte und damit die Verbindung zu den Vorfahren auszuloten – ein Unterfangen, das höchstens annäherungsweise erreicht werden kann. Für Goethe war die Rechenschaft über die eigene Herkunft, letztlich über die gesamte „große Kette des Seins“, die seiner Erkenntnis nach bei Gott beginnt, höchste und unabdingbare Aufgabe des Menschen. Der Weimarer Klassiker hat diese Absicht in berühmten Versen ausgedrückt: „Wer nicht von dreitausend Jahren / Sich weiß Rechenschaft zu geben, / Bleibt im Dunklen unerfahren, / Mag von Tag und Tage leben.“ Bräuche, die häufig viele Generationen verbinden, leisten zu einer solchen Verdeutlichung der Kontinuität einen wesentlichen Beitrag.

Bräuche üben viele Funktionen aus. Sie geben, um nur ein Beispiel zu nennen, Sicherheit. Wenn man nicht weiß, was an einem bestimmten Ort schicklich ist, lebt man in Ungewißheit. Es taucht die Frage auf: Tut man das bei euch? Zu oft unwissentlichen Beleidigungen kommt es, wenn man die regionalen Üblichkeiten nicht kennt. Brauchtum ist häufig kein allein die Vergangenheit bewahrendes Relikt. Je lebendiger der Brauch ist, je wandlungsfähiger er ist, desto stärker wird er praktiziert.

Ein fundamentales Thema der Volkskunde und der Alltagskultur ist der Zusammenhang von Religion und Brauchtum. Nicht jeder Brauch ist religiös, und doch sind religiöse Verhaltensweisen häufig damit verbunden. Beinahe ist man an die alte scholastische Relation von Natur und Gnade erinnert. Letztere setzt Erstere voraus und vollendet sie.

Heidnisch-naturale Bräuche und christliche Umformungen, die sich schließlich definitiv durchgesetzt haben, liegen in der Geschichte stets nahe beieinander. Während in den ersten drei Jahrhunderten der Kirchengeschichte die Auferstehung des Herrn sowie das Fest Epiphanie für das christliche Gedächtnis entscheidend waren, änderten sich die Erinnerungsgepflogenheiten, nachdem der erste römische Kaiser getauft wurde. Im vierten Jahrhundert entstand die „Konstantinische Weihnacht“, wie es der Politologe Richard Faber formuliert hat. Möglicherweise aus missionarischen Motiven heraus wurde der Geburtstag Jesu Christi auf den 25. Dezember gelegt, der für die Konkurrenz bedeutsam war: An diesem Datum fand in Rom die Verehrung verschiedener Götter statt, etwa der Kult des Mithras und der der Sonne. Von der damaligen jungen, selbstbewußten und aufstrebenden Kirche sind wir heute nach rund siebzehn Jahrhunderten Lichtjahre entfernt. Noch in der unmittelbaren Gegenwart nennen kleinere, integralistische Religionsgemeinschaften wie die Zeugen Jehovas Weihnachten ein heidnisches Fest.

Es ist unstrittig, daß Brauchtum viele nichtreligiöse Bezüge einschließt, beispielsweise die Etablierung von Rechtsbeziehungen, die Freude an Spiel und Unterhaltung, aber auch die Fähigkeit zum Symboldenken und -handeln, wie der Theologe Manfred Becker-Huberti in seiner grundlegenden Studie „Feste, Feiern, Jahreszeiten“ hervorgehoben hat.

Warum sind religiöse Bräuche unverzichtbar? Brauch zeigt schon deshalb eine gewisse Korrelation zum Religiösen, weil Sitte und Sittlichkeit miteinander verbunden sind. Letztere ist in ihrer Genese nicht ohne religiöse Einflüsse denkbar, mögen diese im konkreten Kontext noch so verschieden ausfallen. Noch immer prägt – bei deutlich geringeren Bindungen der Bevölkerung an kirchliche Einrichtungen – das liturgienahe Brauchtum den zivilen Kalender. Sogar erklärt atheistische Regime in Europa wagten nicht die Abschaffung zentraler kirchlicher Feste wie Ostern und Weihnachten.

Brauchtum bezieht sich stets auf gemeinschaftliches Handeln. Der einzelne pflegt hingegen Gewohnheiten. Noch immer sind es die herkömmlich christlichen, wenngleich inhaltlich immer mehr entleerten Feste, die den Alltag eines großen Teils der Bevölkerung unterbrechen, selbst den der meisten Nichtchristen. Insbesondere gilt das für das Weihnachts- und Osterfest. Nur wenige überzeugte Atheisten, etwa die Publizistin und frühere Ikone der „Grünen“, Jutta Ditfurth, erklären, daß Weihnachten für sie ein normaler Arbeitstag sei. Der im August verstorbene Kommunismus-Kenner Wolfgang Leonhard, in einer KPD-nahen Familie in der Sowjetunion aufgewachsen und daher ungetauft, bekundete an Weihnachten den Kontakt zur örtlichen Kirchengemeinde und bezeugte den Respekt vor dem dortigen Pfarrer. In seinem Verhalten ist er keine Ausnahme.

Die relativ große Integrationskraft eines Festes wie Weihnachten mag überraschen. Sie ist indessen wohl nur um den Preis einer schon Jahrzehnte zu erkennenden Ausdünnung zu bekommen, vor allem durch den omnipräsenten Konsumismus. Allerdings kommen Entwicklungen innerhalb des Christentums, die seit der Zeit der Aufklärung wahrzunehmen sind, einer solchen, der Verweltlichung Vorschub leistenden Sichtweise entgegen. Schon im 18. Jahrhundert bemerkten Zeitgenossen eine Verschiebung von Weihnachten. Das Fest nahm mehr und mehr Züge einer familiären Angelegenheit an, die mit kirchlichen Vorgaben problemlos vereinbar ist. Das Fest der „Heiligen Familie“ findet im liturgischen Kalender in der Zeit zwischen dem Heiligen Abend und den Heiligen drei Königen statt. Allerdings lassen solche Tendenzen auch säkulare Implikationen zu. Festzuhalten ist, daß kein Brauch auf überörtlicher Ebene, der weite Teile der Welt umfaßt, so viel Widerhall findet wie die christlichen Feste, Säkularisierung hin oder her.

Um Kernelemente christlicher Prägung in Zukunft im säkularen Jahreskreis zu erhalten, wird es eines stärkeren Einsatzes der Christen bedürfen, deren Wirkmacht infolge innerer Auszehrung indes weiter abnehmen dürfte. Das ändert jedoch nichts daran, daß christliches Brauchtum im Vergleich zum rein profanen über ein weit größeres Orientierungs- und Sinnstiftungspotenzial verfügt. Davon profitiert nicht zuletzt das weltliche Gemeinwesen. Das längst kanonisierte sogenannte Böckenförde-Theorem, immerhin die meist zitierte Sentenz eines deutschen Staatsrechtslehrers, will genau dies aussagen. Sie betont, daß das freiheitliche Gemeinwesen von Voraussetzungen lebe, die es selbst nicht garantieren könne. Die über Jahrhunderte bedeutsame christliche Erziehungs- und Bildungsarbeit zeigt hier indirekte, aber deutliche Früchte.

Ernst-Wolfgang Böckenförde hat stets auf den Nutzen spezifisch christlicher Aktivitäten für die Gesellschaft hingewiesen. Um ein prägnantes Beispiel zu nennen: Auch in säkularisierten Zeiten wie den unseren setzt der christliche Liebesgedanke, der insbesondere vom Weihnachtsfest nicht zu trennen ist, vielfältige Impulse frei, die sich in einem erhöhten Spendenaufkommen konkret niederschlagen, von Christen wie von Nichtchristen getätigt. Der Vergleich mit einem rein profanen Brauch wie dem Verschießen von Knallkörpern zum Jahresausklang ist aussagekräftig. Hier werden Mittel verwendet, die im caritativen Bereich besser angelegt wären. Darauf wird in diversen Aktionen „Brot statt Böller“ an Silvester immer wieder verwiesen.

Larmoyanz ist nicht angebracht. Es obliegt dem einzelnen Gläubigen, sich zu den Quellen und zur geistlichen Betrachtung hinzuwenden. Auch hier ist, wie auf etlichen anderen gesellschaftlichen Feldern, christliche Widerborstigkeit nötig.

Der Kampf um christliches Brauchtum ist also mehr als der Einsatz für partikulare religiöse Vorstellungen. Er dürfte in Zukunft heftiger werden. Schon in den letzten Jahren protestierten dezidiert antichristliche Kreise, vornehmlich aus der Jugendorganisation der „Grünen“ wie auch aus den Reihen der „Piraten“, gegen die Aufrechterhaltung der Karfreitagsruhe. Im Herbst 2013 forderten Politiker der Partei „Die Linke“ die Umwidmung der traditionellen Umzüge an Sankt Martin in ein „Sonne-, Mond- und Sterne“-Event. Auf diese Weise könne, so hieß es, der Ausgrenzung moslemischer und bekenntnisloser Kinder ein Riegel vorgeschoben werden. Man darf sich allerdings fragen, wie unverbindlich-multikulturelle Allerweltsveranstaltungen den Akt der Nächstenliebe – in der Martinsüberlieferung eindrucksvoll symbolisiert durch die Teilung des Mantels – in Szene setzen wollen.

Freilich sind derartige antikirchliche Invektiven Nachhutgefechte im Vergleich zu den vehementen Attacken der totalitären Extreme auf christliches Brauchtum. Während fanatisierte NS-Ideologen auf die Einführung einer „germanisch-deutschen Weihnacht“ drängten, agitierte die KPD in den zwanziger Jahren gegen die „Fassade des bürgerlichen Weihnachtsfriedens“. Ein im Vergleich dazu gemäßigter Kritiker des Christentums, der Protagonist der Nouvelle Droite und überzeugte Heide Alain de Benoist, sieht das „nordische“ Julfest durch Weihnachten übertüncht und ins Abseits gedrängt.

Larmoyanz, etwa über den Konsumrummel, ist nicht angebracht. Es obliegt dem einzelnen Gläubigen, sich zu den Quellen und zur geistlichen Betrachtung hinzuwenden. Auch hier ist, wie auf etlichen anderen gesellschaftlichen Feldern, christliche Widerborstigkeit nötig. Auf diese Weise kann der verbreiteten Mentalität des Kaufrausches etwas entgegengesetzt werden. Eine Rückkehr zu einer ursprünglichen christlichen Sicht sowie eine Stärkung des Glaubens sind jederzeit möglich.

 

Prof. Dr. Felix Dirsch, Jahrgang 1967, lehrt Politikwissenschaft an der Universität „Progress“ in Gjumri/Armenien und Politische Theorie an der Hochschule für Politik, München. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über Geschlechterverhältnisse und Gehirnforschung („Von Anfang an verschieden“, JF 26/14).

Foto: Adventliches und weihnachtliches Brauchtum aus ganz Deutschland: Bekräftigt die Verbindung zu den Vorfahren und lotet die Tiefen­dimension der menschlichen Existenz aus

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