© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  02/15 / 02. Januar 2015

Dauerkrise der Industriegesellschaft
Bald wird es ungemütlich
Volkmar Weiss

Um 1930 lebten auf der Erde rund zwei Milliarden Menschen. Heute sind es sieben Milliarden. Nach den Vorausberechnungen der UN würden um 2050 auf der Erde etwa neun Milliarden Menschen leben, ab dann die Zahl durch niedrige Kinderzahlen wieder sinken. Jahrzehntelang war die Welterdölförderung nahezu parallel zur Bevölkerungszahl gestiegen. Da aber inzwischen die preiswerte Hälfte der fossilen Brennstoffe verbraucht worden ist und bei den Alternativen für den Ausbau der Netze und Speicherkapazitäten schwer überschaubare Kosten entstehen, ist eines sicher: Energie wird langfristig teurer werden. Darüber sollte auch der derzeit stark gefallene Ölpreis nicht hinwegtäuschen. Da Elektrizität das Blut ist, das durch die Netze eines Industriestaates fließt, wären großräumige Netzzusammenbrüche ein Gift, das jeder meiden möchte.

Paul R. Ehrlich hatte 1968 in dem Buch „Die Bevölkerungsbombe“ eine Hungerkatastrophe vorhergesagt und sich damit gründlich geirrt. Der bekannteste Gegner solcher Ansichten war Julian Simon, der meinte, die Grenzen von Wachstum und Rohstoffen seien nicht naturgegeben, sondern könnten durch den technischen Fortschritt nahezu beliebig gedehnt und erweitert werden. 1980 schloß Simon mit Ehrlich eine öffentliche Wette ab. Simon forderte Ehrlich auf, ihm fünf Metallmengen zu nennen, die in absehbarer Zeit verknappt würden und damit auch deutliche Preissteigerungen zu erwarten hätten. Ehrlich wählte Chrom, Kupfer, Nickel, Zinn und Wolfram in einem Zeitrahmen von zehn Jahren. Nach zehn Jahren war aber der Preis der Metalle gefallen, und Ehrlich hatte die Wette verloren.

Hätte Ehrlich aber auch verloren, wenn der Zeitrahmen der Wette sich, anstatt über nur zehn, auf 30 oder 60 Jahre erstreckt hätte? Die Entdeckung neuer Kupferlagerstätten zum Beispiel erreichte 1996 ihren Gipfel. Von 2003 bis 2006 vervierfachte sich der Kupferpreis auf dem Weltmarkt. Für alle Rohstoffe gilt: Endliche Vorräte weisen bei exponentiellem Wirtschaftswachstum nach Überschreitung des Fördergipfels einen raschen Preisanstieg auf.

Von 1965 bis 2000 versechsfachte sich in Indien der Ertrag der Weizenernte. Die revolutionären Methoden, wie sie durch Norman Borlaug in der Weizenzüchtung entwickelt worden sind, wurden auf die Züchtung neuer Reissorten und anderer Nutzpflanzen übertragen. Die Denkkraft des Genies, der schöpferische Geist, hatte wieder einmal den Ausweg gefunden, den er nach Meinung eines Julian Simon immer finden wird. Wir hoffen, Simon möge stets recht behalten, und sollten danach streben, die Voraussetzungen dafür zu bewahren.

Im 19. Jahrhundert diente die alltäglich gelebte Leistung dem Bürgertum dazu, in Machtstellungen einzudringen und die Vorrechte von Geburt und Stand auszuhebeln. Der Aufstieg der Industriestaaten setzte die Entfesselung dieses bürgerlichen Leistungswillens voraus. Das führte zu einer Verbesserung der Lebensverhältnisse und ermöglichte ein Bevölkerungswachstum, wie es die Menschheitsgeschichte noch nie gekannt hatte.

Persönlichkeiten, die erfolgreich erfinden und führen können, sind das Kostbarste, was eine menschliche Gemeinschaft hervorbringen kann. Der Ausfall eines einzigen erfahrenen Mitarbeiters kann Entwicklungsprozesse um Monate verzögern.

In den Jahrhunderten zuvor, bis etwa 1850, konnten nur die Ehepaare Kinder großziehen, die ein sicheres Einkommen hatten. Bereits um 1890 läßt sich im Deutschen Reich nach der Einführung des allgemeinen und gleichen Wahlrechts mit der einsetzenden progressiven Besteuerung und ersten Kindervergünstigungen für Geringverdiener ein neuer Wendepunkt markieren, hin zur sozialstaatlichen Entwicklung.

Überall auf der Welt, in Deutschland seit etwa 1910, begrenzen Paare dann ihre Kinderzahlen, wenn sie befürchten, daß ihre Nachkommen den sozialen Status der Eltern nicht mehr halten können und sozialer Aufstieg unwahrscheinlich ist. Da in der sozialen Hierarchie Oberschichtplätze seltener sind als die Plätze weiter unten, beginnt die Geburtenbeschränkung in der Oberschicht. Je später sich ein Land zu einem Industriestaat entwickelt, desto rascher vollzieht sich in ihm der demographische Übergang. Mit der Folge, daß in allen Industriestaaten und Schwellenländern in den nächsten zwei Jahrzehnten ein noch nie dagewesener Altersaufbau der Bevölkerung entsteht, bei dem eine Höchstzahl an Alten mit einer relativ geringen Zahl von Arbeitsfähigen zusammentrifft.

Höhere Bildung wird nicht nur erworben, um Fähigkeiten und Wissen zu bestätigen, sondern um die Gesellschaft darauf aufmerksam zu machen, daß der Graduierte ein bestimmtes Leistungsvermögen besitzt. Dennoch gibt es Millionen Wenigqualifizierte, die dauerhaft arbeitslos bleiben und deren Familien in einen Kreislauf der Armut abrutschen.

In den Industriestaaten werden die Spitzenkräfte von einer vergleichsweise geringen Zahl von Berufen geradezu angesaugt, so wie das in diesem Ausmaße noch nie der Fall war; denn die Denkkraft steht in einer engen und untrennbaren Beziehung mit der Arbeitsproduktivität. Persönlichkeiten, die erfolgreich erfinden und führen können, sind das Kostbarste, was eine menschliche Gemeinschaft hervorbringen kann. Ebenso wie der Energieverbrauch exponentiell angestiegen ist, so auch die Innovationsrate der technischen Evolution. Die Zyklen, in denen neue Produkte alte verdrängen, werden seit Jahrzehnten immer kürzer. Vorteile bei der Entwicklung neuer Produkte hat derjenige, der ein Produkt rascher auf den Markt bringt oder zu einem niedrigeren Preis.

Die Beschleunigung der Produkt­lebenszyklen, die alle Industriezweige erfaßt hat, und die wachsende Komplexität der Probleme und Aufgaben führen dazu, daß der Stellenwert der herausragenden schöpferischen Persönlichkeit ständig steigt. In der Industrie verschiebt sich dabei das Verhältnis des Aufwands von Forschung und Entwicklung zum Gewinn zuungunsten des Gewinns. Die Mitarbeiter in der Forschung und Entwicklung der Hochtechnologiefirmen sind einem gewaltigen Zeit- und Leistungsdruck ausgesetzt.

Wir sind in den Hochtechnologie­branchen bei einer Komplexität der Aufgaben angelangt, die nur noch von wenigen Fachleuten verstanden wird und nicht einmal von diesen vollständig. Der Ausfall eines einzigen erfahrenen Mitarbeiters kann Entwicklungsprozesse um Monate verzögern. Eine einzige Fehlentscheidung des Managements kann das Aus für ein kostspieliges Projekt bedeuten.

Alle Statistiken bestätigen, daß Qualifikation der Eltern und Schulleistungen der Kinder in einem engen Zusammenhang stehen, gebildete Eltern aber weniger Kinder haben. Etwa 40 Prozent der Frauen mit einem Hochschulabschluß bleiben in Deutschland kinderlos. Ihr Potential, gebildete Kinder großzuziehen, wird damit verschenkt; statt dessen muß verstärkt Geld in Bemühungen gesteckt werden, andere Kinder gleichziehen zu lassen. Das Elterngeld in der derzeitigen Form regt Frauen dazu an, die Geburten in ein Lebensalter aufzuschieben, in dem das Elterngeld einen hohen Betrag erreicht. Um diesen Anreiz umzukehren, sollte das Elterngeld durch einen Grundbetrag ergänzt werden, der an Studenten und Abiturienten ohne jede Zusatzbedingung ausgezahlt wird. Dazu gehört aber auch ein Ausbau der Kinderbetreuung im Hochschulbereich, wie er in der DDR schon einmal zwischen 1972 und 1990 bestand.

„Konservativ“ zu sein gilt in einer sich rasch wandelnden Welt als keine gute Empfehlung. Der Erfolg von Regierungen hängt weitgehend davon ab, ob es ihnen gelingt, den Lebensstandard der Bevölkerung zu erhöhen oder wenigstens zu erhalten.

Betrachtet man die OECD-Staaten als Ganzes, dann ist der mittlere IQ der Einwanderer zwei Punkte höher als der bei den Einheimischen, wodurch die Auswirkungen der geringen Kinderzahlen der Gebildeten in manchen Industriestaaten ausgeglichen werden. Diesem Zugewinn an Denkkraft stehen Verluste in Ländern Osteuropas und der Dritten Welt gegenüber.

Seit einem Jahrhundert wachsen in allen Industriestaaten die Staatsausgaben, aber seit Jahrzehnten auch die Staatsverschuldung. Je mehr die politischen Parteien versprechen und desto rascher sie sich selbst dem sich beschleunigenden Wandel anpassen, desto größer sind lange Zeit ihre Erfolgsaussichten. „Konservativ“ zu sein gilt in einer sich rasch wandelnden Welt als keine gute Empfehlung. Der Erfolg von Regierungen und ihre Fähigkeit, Zustimmung zu erlangen, hängt weitgehend davon ab, ob es ihnen gelingt, den Lebensstandard der Bevölkerung zu erhöhen oder wenigstens zu erhalten. Das Vertrauen in die Wirtschaftskraft beruht auf der Fähigkeit zu weiterem Wachstum. Schwindet dieses Vertrauen, dann steigen die Arbeitslosenzahlen, und es kommt eine rückgekoppelte Kettenreaktion in Gang, die in der Regel den Sturz der Regierung mit sich bringt. Deshalb streben alle Regierungen ein weiteres Wachstum des Bruttosozialprodukts an.

Für einen Ausstieg aus diesen technologischen und politischen Zwängen scheint es keinen durchsetzbaren Entwurf zu geben. Ein Umschwung käme erst dann, wenn die energetischen Grundlagen aufgebraucht sind oder übernutzt werden, wenn die Verschuldung der öffentlichen Kassen alle Maße überstiege und keine auch nur halbwegs glaubwürdigen Wahlversprechungen mehr gemacht werden könnten, weil es nichts mehr umzuverteilen gäbe. In einer solchen Krise käme es zur Gefährdung der demokratischen Ordnung.

In den nächsten drei Jahrzehnten muß sich die Welt durch ein gefährliches Nadelöhr zwängen. Das Zusammentreffen von innerer Instabilität mit steigenden Energie- und Rohstoffpreisen wird in nicht wenigen Staaten zu Bürgerkrieg und Chaos führen und damit zu steigenden Flüchtlingszahlen. Der Wanderungsdruck auf den Kern der Industriestaaten wird sich erhöhen. Solange die Rohstoffzufuhr aufrechterhalten werden kann und Energie bezahlbar bleibt, können die Wohlstands­inseln vom Zustrom von Fluchtkapital und qualifiziertem Personal sogar noch profitieren. Jedoch ist die Entwicklung voller Risiken und droht innerhalb der nächsten vier Jahrzehnte in eine weltweite Krise bisher ungeahnten Ausmaßes umzuschlagen.

 

Dr. rer. nat. habil. Dr. phil. habil. Volkmar Weiss, Jahrgang 1944, ist Genetiker, Sozialhistoriker und Genealoge. 1969 begann er mit der Erforschung des sozialen Hintergrunds der Mathematik-Hochbegabten der DDR und arbeitete in der Abteilung Soziologie der Akademie der Wissenschaften. Von 1990 bis zu seiner Pensionierung 2007 war er Leiter der Deutschen Zentralstelle für Genealogie in Leipzig.

Foto: Wolfgang Mattheuer, „Der Koloß II“, 1970: „In den nächsten drei Jahrzehnten muß sich die Welt durch ein gefährliches Nadelöhr zwängen. Für einen Ausstieg aus den technologischen und politischen Zwängen scheint es keinen durchsetzbaren Entwurf zu geben. Die Entwicklung ist voller Risiken und droht innerhalb der nächsten vier Dekaden in eine weltweite Krise bisher ungeahnten Ausmaßes umzuschlagen.“

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