© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  02/15 / 02. Januar 2015

Die vielen und ihre wenigen Kinder
50 Jahre danach: Babyboomer, Pillenknick und die demographischen Auswirkungen in der Bundesrepublik bis 2030
Michael Paulwitz

Die letzten „Babyboomer“ werden 2015 ihren 50. Geburtstag feiern. Noch prägt ihre Generation das Land: In der Regel sind sie auf dem Höhepunkt ihrer Erwerbsbiographie angekommen, viele von ihnen sitzen an den wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Schalthebeln, und sie erwirtschaften einen großen Anteil der Rekordeinnahmen an Steuern und Abgaben, die die Politik mit vollen Kellen umverteilt und sich dabei der Illusion hingibt, es ginge ewig so weiter.

Wenn allerdings 2030 die letzten Babyboomer das Rentenalter erreichen, steht mehr als ein Generationenwechsel an: Spätestens dann wird der demographische Wandel, der seit 1972 im vollen Gange ist und von den politisch Verantwortlichen ebenso lange ignoriert wird, das wirtschaftliche und gesellschaftliche Gefüge direkt und dramatisch umgekrempelt haben.

Unter dem Schlagwort „Babyboomer“ faßt man gemeinhin die Geburtenjahrgänge von 1955 bis 1965 zusammen. Sie waren die zahlenstärksten in Deutschland seit dem 19. Jahrhundert. Sie sind Kinder des Wirtschaftswunders: Der rasche ökonomische Wiederaufstieg nach der totalen Katastrophe von 1945, Vollbeschäftigung und reale Aufstiegschancen für eine breiter und wohlhabender werdende Mittelschicht bei gleichzeitig intakten familiären Wertvorstellungen schufen eine optimistische Grundstimmung, die sich in rasant steigenden Geburtenzahlen niederschlug – und das, den Systemunterschieden zum Trotz, parallel in West- und Mitteldeutschland. 1964 war der Höhepunkt mit 1.357.304 Lebendgeborenen erreicht. Der letzte geburtenstarke Jahrgang 1965 war mit 1.325.386 Kindern noch fast gleich groß. Jeweils mehr als eine Million Kinder kamen in diesen beiden Jahren allein in Westdeutschland zur Welt.

Rückblickend sprechen Demographen schon 1965 vom einsetzenden „Pillenknick“. Familienplanung durch neue Verhütungsmittel und veränderte, zunehmend individualegoistische Einstellungen zu Ehe und Familie sind jedoch nur ein Faktor. Demographisch betrachtet ist der „Babyboom“ eine Ausnahmeerscheinung, ein Nachholeffekt nach den vorangegangenen mörderischen Bevölkerungsverlusten.

Babyboomer sind Rückgrat des heutigen Wohlstands

Schon Anfang der Siebziger fiel die Geburtenrate, wiederum parallel dies- und jenseits von Mauer und Stacheldraht, wieder unter das Niveau der unmittelbaren Nachkriegszeit. 2013 kamen in ganz Deutschland nur halb so viele Kinder zur Welt wie auf dem Höhepunkt der geburtenstarken Jahrgänge: 682.100, rund ein Viertel Einwandererkinder mitgerechnet. Selbst im hunger- und entbehrungsreichen ersten Nachkriegsjahr 1946 lag die Zahl der Lebendgeborenen mit 922.000 fast ein Drittel höher.

Die Zahlen werden weiter sinken: Bevölkerungswissenschaftler wie Herwig Birg rechnen 2030 nur noch mit 532.000 und bis 2050 mit einem weiteren Rückgang auf 438.000 Geburten. Mit drastischen Folgen für die Sozialsysteme: Verbunden mit der seit den Sechzigern um zehn Jahre gestiegenen und weiter steigenden Lebenserwartung wird das den „Altenquotienten“ von 33,9 im Jahr 2012 auf einen Wert um 50 steigen lassen, das heißt: auf jede Person im Rentenalter kommen nicht mehr drei, sondern nur noch zwei Einwohner im erwerbsfähigen Alter, die nicht nur die Sozialbeiträge für die Rentenzahlung, sondern auch für höhere Gesundheits- und Pflegekosten erwirtschaften müssen.

Unternehmen müssen sich darauf einstellen, daß 2030 6,3 Millionen Personen im erwerbsfähigen Alter weniger als heute zur Verfügung stehen, während zugleich 5,5 Millionen 65jährige und Ältere mehr versorgt werden müssen. Man muß kein Prophet sein, um vorauszusagen, daß unsere Sozialsysteme dann im heutigen Umfang nicht mehr finanzierbar sein werden. Es sind die zahlenstarken und gutqualifizierten Kohorten der Babyboomer, die das Rückgrat des heutigen Wohlstandsniveaus und der deutschen Exportüberschüsse bilden.

Trotzdem wachsen die Möglichkeiten für die Steigerung der Wirtschafts- und Produktivitätsleistung nicht in den Himmel; Zuwachsraten, die den Bevölkerungsschwund ausgleichen könnten, sind allenfalls als theoretische Zahlenspiele denkbar. Den Babyboomern, warnt das Berlin-Institut, droht Altersarmut. Dies um so mehr, als die Politik die heute noch von ihnen erwirtschafteten Überschüsse für soziale Wohltaten wie die „Rente mit 63“ verfrühstückt, die den Effekt noch verstärken, statt echte und nicht bloß symbolisch deklarierte Rücklagen zu bilden.

In der DDR gelang es seit Mitte der siebziger Jahre, die Geburtenraten, die 1965 noch wie in Westdeutschland mit 2,5 Kindern pro Frau im gebärfähigen Alter weit über der bestandssichernden Marke von 2,1 lagen, nach dem Einbruch auf 1,5 bis 1975 zum Beginn der Achtziger wieder auf 1,9 zu heben. Der wirtschaftliche Niedergang, der durch die dafür notwendigen sozialen Anreize auf Pump noch beschleunigt wurde, ließ die Rate noch vor der Wende wieder einbrechen. Im wiedervereinigten Deutschland bewegt sie sich, wie in der alten Bundesrepublik seit 1975, konstant im Bereich um oder unter 1,4.

In der Bundesrepublik Deutschland hat eine Bevölkerungspolitik, die auf Anhebung der Geburtenraten zielt, tatsächlich nie stattgefunden. Eine rasche Umkehr ist ohnehin nicht möglich: Es fehlen bereits die potentiellen Eltern, die die Babyboomer nie geboren haben: 1985, als sie zwischen zwanzig und dreißig waren, sank die Geburtenrate in Westdeutschland auf den Tiefstwert von 1,28. Obwohl die Zahlen seit Jahrzehnten auf dem Tisch liegen, experimentiert man erst seit kurzem mit Strategien, die vor allem kurzfristigen Interessen der Wirtschaft dienen.

Die massive Mobilisierung von Frauen für die Vollzeit-Erwerbstätigkeit läßt allerdings, allen Parolen von der „Vereinbarkeit“ von Familie und Beruf zum Trotz, die Zahl der kinderlosen Frauen, Spätgebärenden und Ein-Kind-Mütter weiter steigen, statt sie zu senken. Die von Herwig Birg konstatierte „kompensatorische Einwanderungspolitik“ wiederum, die durch „demographischen Kolonialismus“ im Inland fehlende Geburten durch Kinder anderer Länder ersetzen will, verfehlt auch dieses Behelfsziel: Die in Deutschland tatsächlich betriebene Einwanderungspolitik erhöht faktisch den Anteil der Nicht- und Geringqualifizierten in den schrumpfenden Alterskohorten und verursacht zusätzlichen Bedarf für Sozialtransfers, Bildungs- und Integrationsausgaben.

Noch lassen sich diese über steigende Steuern und Abgaben der von den geburtenstarken Jahrgängen getragenen produktiven Mittelschicht aufbürden. „Wir wähnen uns stark und kräftig, weil die Babyboomer noch da sind“, warnt Ifo-Chef Hans-Werner Sinn und plädiert für eine Koppelung der Rentenhöhe an die Kinderzahl. Dreizehn Millionen zählt die Generation derer, die im Jahr 2015 zwischen 50 und 59 Jahre alt sein werden.

Viele zu sein und mit vielen Altersgenossen zu konkurrieren ist eine zentrale Erfahrung der Babyboomer – in der Schule, bei der Studienplatzsuche und im Hörsaal, auf dem Arbeitsmarkt. Zwar war der Aufstiegsoptimismus ihrer Elterngeneration, die ihre Familien in Zeiten der Vollbeschäftigung gründeten, durch erste Krisen erschüttert, die Erwerbsbiographien verliefen nicht mehr so geradlinig, Arbeitslosigkeit wurde wieder zur realen Sorge. Dennoch wuchsen sie, vor allem in Westdeutschland, in einem spendablen Sozialstaat auf hohem Wohlstandsniveau heran, der vor allem den Mittelschichtskindern unter ihnen die Illusion erlaubte, das Vorgefundene als gegeben zu betrachten und der individualistischen Selbstverwirklichung auch im ideologischen Bereich breiteren Raum zu geben.

Nicht nur demographisch hat die Generation der Babyboomer durch historisch niedrige Geburtenraten an dem Ast gesägt, auf dem sie komfortabel Platz genommen hatte. Friedens-, Frauen- und Anti-Atomkraft-Bewegung, Multikulturalismus und Weltretter-Ideologien von Umwelt bis Drittwelt sind in ihrem Erfolg kaum denkbar ohne den großen Zulauf der in den Siebzigern und Achtzigern flügge gewordenen und sinnsuchenden Kinder des Babybooms.

Lebensabend in einem anderen Deutschland

Die florierende Achtziger-Jahre-Renaissance ist ein Symptom für den prägenden Einfluß dieser Generation auf das heutige Deutschland. Und das meint keineswegs nur die Allgegenwart von Achtziger-Musik in den populären Radiosendern, die erfolgreiche Wiederbelebung von Marken, mit denen nostalgisch werdende Babyboomer die heile Kindheitswelt verbinden – von Bluna und Africola über Creme21 und TriTop bis zu Bully Herbigs satirischen Adaptionen von Kindheitshelden wie Winnetou, Wickie und Captain Kirk. Auch Großexperimente mit zweifelhaftem Ausgang für die deutsche Wirtschaftskraft wie die „Energiewende“ treffen den Nerv dieser Generation, von der im Multikulti-Illusionismus steckengebliebenen Asylpolitik ganz zu schweigen.

Erst recht gilt das für die just in dieser Zeit gegründeten Grünen, denen sie in Scharen zuliefen. Nach dem allmählichen und widerwilligen Rückzug der Achtundsechziger-Gründerväter sitzen die Babyboomer dort fester denn je im Sattel. Dem Nachwuchs aus den geburtenschwachen Jahrgängen bleibt es, wie in den anderen Parteien auch, an den Türen zur Macht zu kratzen und allenfalls einzelne Mandate zu erobern. Die Schalthebel geben die heute Fünfzigjährigen nur ungern aus der Hand.

Wenn sie denn doch schließlich Platz machen müssen, wird das Deutschland, in dem sie ihren Lebensabend verbringen, ein ganz anderes sein als das, in das sie geboren wurden. Ziehen sie sich altersbedingt aus dem Straßenbild zurück, wird die Mehrheitsgesellschaft in vielen Großstädten auch optisch nicht mehr deutsch sein. Statt Konkurrenz unter Gleichaltrigen werden Verteilungskämpfe zwischen Generationen und ethnischen Gruppen den gesellschaftlichen Wettbewerb um den kleiner gewordenen Kuchen bestimmen. Die Entscheidungen treffen dann allerdings andere.

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