© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  02/15 / 02. Januar 2015

Warum die DDR ohne jegliches Blutvergießen unterging
Rüdiger Wenzkes Sammelband über die Rolle der „bewaffneten Organe“ in den letzten Tagen vor dem Mauerfall 1989
Friedrich-Wilhelm Schlomann

Es ist eine der größten Fragen des Herbstes 1989, warum die SED-Führung vor dem Einsatz militärischer Gewalt zurückschreckte, obwohl ihre bewaffneten Organe noch durchaus funktions- und einsatzfähig waren. Der Autor wertet als eigentliche Ursache, daß diese vor dem Hintergrund des zerbrechenden Ostblocks sich bereits in einer tiefen Struktur- und Sinnkrise befanden.

Die NVA und die verschiedenen Polizeieinheiten waren zwar wichtige Teile des DDR-Machtapparates, zugleich aber ebenso Teile des Volkes. Deren Stimmung war inzwischen durch Ernüchterung und zunehmende Desillusionierung gekennzeichnet. Armeeoffiziere handelten nicht ohne Befehle; selbst deren Führung hatte keine besonderen Ambitionen, die Verantwortung für Einsätze gegen Demonstrationen zu übernehmen. Selbst in der Generalität kam es ab Anfang Oktober 1989 zu offenen Auseinandersetzungen zwischen besonnenen Kräften und dem alten Führungszirkel.

Enttäuschung über den „Verrat“ der Sowjets

Auch bei den „Kampfgruppen“ lehnte die Mehrzahl ein bewaffnetes Vorgehen ab. Hinzu kam ein äußerst wichtiger Punkt: Im Gegensatz zu 1953 griffen die sowjetischen Besatzungstruppen nicht ein. Angesichts des verlorenen Rüstungswettlaufs zwischen der UdSSR und den USA setzte Moskaus neue Militärdoktrin vom Mai 1987 nun die Verteidigung anstatt des Angriffs in Mitteleuropa in den Vordergrund; in der DDR kam es indes erst Anfang 1989 zur Verkleinerung der NVA, wobei ökonomische Zwänge dominierten.

Ein Vertrauensverlust unter den Soldaten war die Folge. Am 40. Jahrestag des Regimes am 7. Oktober verlangte MfS-Chef Erich Mielke auf die Rufe „Wir sind das Volk“ ein „hartes Durchgreifen“: Mit unglaublicher Härte gingen seine 15.000 „Einsatzkräfte“ vor, wobei nach dem Autor „die größte Brutalität“ von 700 MfS-Angehörigen ausging. Die über 1.000 Verhafteten ließen indes auch bei bisher loyal ergebenen DDR-Bürgern und ebenfalls bei treuen SED-Mitgliedern Ablehnung, sogar Haß gegen ihr Regime entstehen.

Zu den Demonstrationen am 9. Oktober in Leipzig wurde die Bereitschaftspolizei extra aufgehetzt mit der Parole „Entweder die oder wir!“ Es war wohl die in diesem Rahmen bisher nie gekannte gewaltige Menschenmenge von 70.000 Demonstranten und deren absolute Friedfertigkeit, die eine Gewaltaktion und zugleich ein Blutbad verhinderten. Der fatale Befehl zum Einsatz blieb aus; das erleichterte viele Bereitschaftspolizisten, die nach Ansicht des Verfassers „immer weniger bereit waren, ihren Kopf hinzuhalten“. Die SED-Führung aber blieb bis zu ihrem Ende bei ihrer Linie, alle geplanten Demonstrationen schon im Entstehen zu verhindern. An ihrer Stelle obsiegte der friedliche Protest der Bevölkerung.

Das abschließende Kapitel des Buches ist der sowjetischen Besatzungsarmee in der DDR gewidmet, die Ende 1988 noch 420.000 Soldaten, 7.900 Panzer und 900 Kampfflugzeuge umfaßte. Hatte Moskau am 17. Juni 1953 seine Truppen brutal zur Niederschlagung des Volksaufstandes eingesetzt, so glaubte die SED-Führungsspitze erneut an eine Unterstützung des Kremls und war um so enttäuschter über dessen „Verrat“. Denn bereits im Sommer 1989 und dann wieder im Herbst erklärte Gorbatschow gegenüber Honecker eindeutig, daß bei inneren Unruhen in der DDR seine Soldaten in ihren Kasernen bleiben würden. In der Tat griffen sie beim Fall der Berliner Mauer nicht ein, obschon einzelne Einheiten dazu durchaus bereit waren. Das Buch berichtet, daß Ende 1989 vom ZK der KPdSU durchgeführte Umfragen unter den sowjetischen Truppen in der DDR deren neutrale Position ergeben hätten. Das eigene Schicksal und das ihrer Familien löste bei nicht wenigen Offizieren Unsicherheit aus. Insgesamt kamen die Moskauer Analysen zu der Einschätzung, daß der Personalbestand der Sowjetsoldaten dort „unter moralisch-psychologischen Gesichtspunkten nicht zum bewaffneten Einsatz gegen die Zivilbevölkerung der DDR bereit war.“ Tatsache bleibt: Ohne ihr Eingreifen brach die DDR wie ein Kartenhaus zusammen.

Rüdiger Wenzke (Hrsg.): „Damit hatten wir die Initiative verloren.“ Zur Rolle der bewaffneten Kräfte in der DDR 1989/90. Ch. Links Verlag, Berlin 2014, gebunden, 272 Seiten, Abbildungen, 29,90 Euro

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