© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  04/15 / 16. Januar 2015

Stalins schweres Erbe
Ukraine: Die Debatte um die Hungersnot zu Beginn der dreißiger Jahre, bei der Millionen starben, spaltet auch heute das Land
Billy Six

Die Ukraine, zweitgrößtes Land des alten Kontinents, befindet sich nicht nur in der Entscheidungsschlacht zwischen EU und Eurasischer Zollunion oder dem Krieg der lokalen Oligarchen. Die 45 Millionen Einwohner sind auch gespalten in ihrer politischen Kultur. Die Verarbeitung der kommunistischen Vergangenheit ist dafür beispielhaft.

Lemberg, Westukraine, im Februar 2014: In der ausgebrannten, von Maidan-Anhängern besetzten zentralen Polizeiwache hat Bohdan Shvets gerade seinen Papierkram erledigt. Der Sturz von Präsident Janukowitsch freut den Leiter eines lokalen EU-Kooperationsprogramms. „Die Kommunisten waren wie Tiere“, sagt er gelassen – aber ohne den Hauch von Diplomatie. Die verstorbene Großmutter habe berichtet, wie „die Russen, eine asiatische Horde“ über seine k.u.k. geprägte Traditionsstadt hergefallen seien. „Als die Deutschen im Zweiten Weltkrieg abzogen“, so der 32jährige, „fing für uns die Hölle erst an.“ Wohnungen seien in Beschlag genommen, Frauen vergewaltigt worden. „Die Rotarmisten wuschen sich ihren Kopf in den Toiletten, weil sie es nicht anders kannten.“

Antikommunismus und Russophobie sind hier weit verbreitet. „Wir hatten die Wehrmacht mit Brot und Salz empfangen“, erinnert sich Magda Kosakewitsch, 91jährige Schwiegergroßmutter des Bürgermeisters ihrer Heimatgemeinde Simna Voda, unweit von Lemberg. Auch jetzt, so sagt sie, würde sie Gott um „deutsche Hilfe gegen die Russen“ bitten. Leben unter russisch-kommunistischer Herrschaft habe immer Mangel bedeutet – „aber wir haben zusammengehalten und unsere Lebensmittel zu verstecken gewußt“.

Es ist ein Phänomen, daß die große Hungersnot im Sowjetkommunismus 1932/33 vor allem in der westlichen Ukraine thematisiert wird, die von der „Bolschewisierung“ als Teil Polens gar nicht betroffen war. Ausgerechnet dort, wo nach Schätzungen bis zu 7,5 Millionen Menschen im sogenannten Holodomor verhungert waren – also in der zentralen und südlichen Ukraine – ist die prorussische Bewegung des Jahres 2014 stark.

„Der letzte Zar war zu schwach, sein Imperium zu regieren“, meint Informatiker Anatolij aus Jalta auf der Krim. Erst Sowjetdiktator Stalin (1924/27–1953) habe die Grundlagen für Stabilität und Wohlstand geschaffen. „Unterdrückung und Terror helfen vielleicht, Leute zu regieren. Ich hoffe immer wieder, daß dies nicht stimmt, aber für dieses Land scheint es mir der Fall zu sein“, so der 29jährige. Es sind keine leeren Worte. Urgroßmutter Elisaweta sei 1937 von der Geheimpolizei exekutiert worden – ein Exempel gegenüber ihren Kollegen von der Post, deren Kontakt zu „sensiblen Informationen“ man gefürchtet habe. Der bloße Verdacht, ein Staatsfeind zu sein, bedeutete damals für viele den Tod.

Anatolij zeigt das Familiengrab: Elisawetas Ruhestätte ist bis heute leer, die Leiche tauchte nie auf. Trotzdem sei die Familie stets systemloyal gewesen. 2014 ist es der sonst in sich gekehrte Urenkel, der zur zentralen Lenin-Statue zieht, um mit Hunderten anderen den „Segen für Rußland“ auszurufen. Ideologie und Klassenkampf seien falsch gewesen, so Anatolij, aber „unser Lenin ist die Visitenkarte Jaltas“.

Ich bin immmer weggerannt, wenn ich Tote gesehen habe

Mindestens 100 Denkmäler des Revolutionärs wurden von Dezember 2013 bis Februar 2014 durch aufgebrachte Menschenansammlungen vom Sockel gerissen. Als Konsequenz bildeten sich selbst im protestfaulen Süden und Osten der Ukraine Anti-Maidan-Bewegungen, welche ihre Denkmäler zu verteidigen suchten. Keine Wiedergeburt der roten Ideologie – eher Trotz gegen politisch motivierte Geschichtspolitik.

Schon 2009 hatte die damalige Präsidentengattin des „orangenen Revolutionärs“ Juschtschenko offiziell zum Abriß aller kommunistischen Andenken aufgerufen. Viktor Juschtschenko verlor ein Jahr später die Präsidentschaftswahlen gegen Viktor Janukowitsch.

Die antikommunistische Welle 22 Jahre nach der Unabhängigkeit wurde vor allem von jungen Ukrainern getragen: Ihnen ist oftmals nicht bekannt, daß es Lenin war, der nach dem Bürgerkrieg eine Ukrainische SSR mit ihrer heutigen Ostgrenze formen und die nationalen Minderheiten mittels „Korenisazija“ (russ. „Einwurzelung“) fördern ließ. Die jahrelange Ukrainisierungspolitik, erst 1931 unter Stalin wieder beendet, bildet die Basis für eine proukrainische Minderheit im russischsprachigen Osten.

Besuch in der Schwarzmeer-Oblast Cherson. Die Verhältnisse sind differenziert: Die Alten halten eher zur russischen Orthodoxie, die Jungen mehrheitlich zu prowestlichen Ideen. Maidan-Aktivist Vova aus Tsiurupinsk ist einer von ihnen. Der junge Arzt verdient im lokalen Krankenhaus gerade mal 150 Euro – und sieht wirtschaftliche Hoffnung in einer Annäherung an die Europäische Union.

Mit Traktor und Seilwinde haben einige hundert Maidanler den meterhohen Lenin im Zentrum vom Sockel gerissen. Der zersägte Metallkörper liegt nun im Hof eines Freundes. Leonid Slivkanich, örtlicher Priester des Kiewer Patriarchen, moniert: „Für das Lenin-Denkmal wurde erst ein Friedhof entsorgt, später auch noch die Marienkirche – für die bessere Sicht.“ Ob Lenins Fall nun späte Gerechtigkeit darstelle, darauf will sich der Geistliche nicht festlegen. Aktivist Vova geht jedoch noch weiter: „Am liebsten hätten wir das Denkmal Alexander Tsiurupas zerstört, aber das steht direkt neben der Polizeiwache.“

Berufsrevolutionär Tsiurupa war nach der Oktoberrevolution als Volkskommissar mitverantwortlich für die staatliche Beschlagnahme von Lebensmitteln – und damit für den Beginn der jahrelangen Gewalt zwischen Bolschewiken und Bauern. „Er hat Agrargüter von hier nach Moskau bringen lassen, so daß im Holodomor allein in Tsiurupinsk über 2.000 Menschen verhungert sind“, so Priester Leonid. Allerdings war der Sowjetfunktionär 1932/33 bereits vier Jahre tot.

Auf dem größten Friedhof von Tsiurupinsk ist ein schlichter Gedenkstein für die Hungertoten aufgestellt worden – allerdings für jene 1946/47, als wieder mal Mangelernährung in der Kornkammer der UdSSR herrschte.

Großmütterchen Hala paßt ins Ambiente des farbenreichen Gräberfeldes, mit Monumenten aus Stein, Holz und Metall. Sie ist zum Reinemachen gekommen. Fragen nach dem letzten „kleinen Holodomor“ beantwortet sie nur unwillig: „Auf Pferdeschlitten wurden damals Leichen angefahren und in eine bereits volle Grube geschmissen“, so die damals Neunjährige. „Selbst nach dem Zuschütten“, sagt Hala, „ragten die Körperteile noch aus dem Boden.“ Einige seien damals in den Krankenhäusern verstorben, andere auf offener Straße. Hala: „Ich bin vor Angst immer weggerannt, wenn ich Tote gesehen habe.“

In bester Lage hat die Regierung unter dem orangenen Präsidenten Juschtschenko 2008 in Kiew ein Untergrundmuseum mit oberirdischer Turmanlage bauen lassen. Fast eine halbe Million Besucher kommen jährlich zum „Denkmal der Erinnerung an die Hungeropfer der Ukraine“. Auch die Präsidenten Medwedew und Janukowitsch zählten dazu. Sie verweigerten sich allerdings der Sichtweise, bei der „Tötung durch Hunger“ habe es sich um einen „gezielten Völkermord an den Ukrainern“ gehandelt. Viele Staaten aus dem Westen und Lateinamerika sehen das so. Deutschland nicht. Hier überwiegt die Auffassung, Enteignungen und Abriegelungen von Dörfern hätten der widerspenstigen Landbevölkerung im allgemeinen gegolten – und zwar in vielen Teilen der UdSSR, so etwa auch entlang der Wolga oder in Kasachstan.

In der Kiewer Ausstellung wird vor allem auf Emotionen gesetzt, weniger auf kalte Fakten. Keine der adretten Ausstellungsführerinnen spricht Englisch – und dies trotz großzügiger Förderung des Projekts durch amerikanische Organisationen und die US-Botschaft. Die einzige lebende Zeitzeugin, mit der die Ausstellung in Kontakt sei, fürchtet sich vor einem Gespräch.

Ein solches kommt durch Zufall zustande, im Dorf Pervomaysky der östlichen Oblast Donezk. Katherina, geboren 1924, humpelt auf ihrem Krückstock durch den Garten. Im Feld neben dem Bretterverschlag baut sie noch immer Gemüse an. Mit der Sowjetzeit verbinde sie „Blumen, Musik, Arbeit, Sauberkeit und Freundschaft“ – Werte, die mit der neuen Zeit verschwunden seien.

Der Holodomor als schlichte Einbildung?

Und der Holodomor? Für Katherina schlicht eine „Einbildung“. Gehungert worden sei in den Dörfern, „weil es zwei Jahre nicht geregnet hat“. In der Stadt jedoch habe sich der Staat um die Arbeiter gekümmert: „Mein Vater erhielt ein Kilo Brot am Tag für seine Arbeit in der Kohlemine, dazu 400 Gramm für jedes Kind.“ Auch in der Schule habe es ein tägliches Essen gegeben, erinnert sich die rüstige Dame. Und „nur die Kulaken, wohlhabende Bauern“ hätten sich vor der Enteignung zu fürchten brauchen.

„Es gibt keinen Anlaß, die große Hungersnot in Zweifel zu ziehen“, hält Professor Wladimir Nikolsky von der Donezker Nationaluniversität dagegen. Seit Gorbatschows Freigabe 1989 forscht der 68jährige in den Archiven zum Holodomor. In mehreren ukrainischen Kommissionen war Nikolsky dabei. Für die Region Donezk hat der Historiker auch Fälle von Kannibalismus dokumentiert.

Einzig Zahlen und politische Bewertung der Vorgänge, rät er mit Vorsicht zu genießen und hebt einen dicken Wälzer in die Luft: „Nationales Gedenkbuch in Erinnerung an Menschen, die im Holodomor starben – Donbass, 1932/33.“ In dem Buch seien die Namen aller Verstorbenen jener Zeit aufgezeichnet – ohne jede Kenntnis ihrer Todesursache. Politischer Wille unter Präsident Juschtschenko: Ein großes Opferausmaß. Einen Völkermord sieht Nikolsky nicht. Die Sowjetführung habe Pläne zur Industrialisierung gehabt. Gegen Devisen seien Agrargüter ins Ausland exportiert worden, ohne Rücksicht auf lokale Gegebenheiten. „Doch dafür waren wir kein Drittweltland mehr und konnten im Krieg bestehen.“

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