© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  04/15 / 16. Januar 2015

„Wir haben einen Fehler gemacht“
Türkei: Hieß es zuerst Linksextreme seien verantwortlich für den Selbstmordanschlag in Istanbul, deuten nun Spuren Richtung Kaukasus
Ali Özkök

Der Selbstmordanschlag in der Nähe der in Europa als Blaue Moschee bekannten Sultan-Ahmed-Moschee in Istanbul läßt auch eine Woche nach der Tat zahlreiche Fragen offen. Eine Attentäterin, die einen Gesichtsschleier getragen haben soll, habe Ermittlungsergebnissen zufolge in englischer Sprache Einlaß in eine Polizeiwache unter dem Vorwand begehrt, ihre dort vergessene Brieftasche holen zu wollen. Als die Beamten diese Geschichte anzweifelten und der Frau den Zutritt in die Polizeistation verweigerten, brachte sie ihren unter der Kleidung getragenen Sprengstoffgürtel zur Detonation. Dabei starb neben der Attentäterin selbst noch ein Polizeibeamter, ein weiterer wurde verletzt.

Schwarze Witwe im Visier der Sicherheitsdienste

Mittlerweile gehen die Sicherheitsbehörden in Istanbul davon aus, daß es sich bei der Täterin um eine sogenannte „Schwarze Witwe“ handelte, die im Juni 2014 als Staatsangehörige der Russischen Föderation mit Touristenvisum in die Türkei eingereist war. Als „Schwarze Witwen“ werden die Frauen im Kampf getöteter Terroristen aus Tschetschenien oder Dagestan genannt, die im wahhabitischen Milieu als Belastung für die Hinterbliebenen betrachtet und deshalb regelmäßig zur Begehung von Selbstmordattentaten für den Dschihad bewegt werden. Laut Berichten der Tageszeitung Hürriyet untersucht der türkische Geheimdienst auch eventuelle Verbindungen der Attentäterin zu al-Qaida und zur Terrormiliz Islamischer Staat (IS).

In Istanbul existiert eine zahlenmäßig nicht unerhebliche tschetschenische Gemeinde. Diese Tatsache veranlaßte auch einige in den terroristischen Kampf involvierte Personen dazu, in die Türkei einzureisen und den Versuch zu unternehmen, sich in der Anonymität der 13-Millionen-Metropole ein ruhiges Hinterland zu schaffen. Der russische Geheimdienst hat diese Entwicklung registriert und steht im Verdacht, darauf mit gezielten Tötungen zu reagieren. Neu ist aber, daß aus den Reihen der „Schläfer“ Anschläge in der Türkei verübt werden.

Noch mysteriöser ist, daß sich unmittelbar nach dem Attentat die linksextremistische türkische Terrororganisation Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front (DHKP-C) zu dem Anschlag bekannte. Erst unter dem Eindruck der entgegenlaufenden Ermittlungsergebnisse ruderten die Linksextremisten zurück und widerriefen ihre zuvor bekundete Verantwortung. In einer Erklärung hieß es lapidar: „Wir haben einen Fehler gemacht, da wir unter faschistischen Bedingungen leben. Auch wir befanden uns in der Vorbereitung einer Aktion. Sie hat sich mit der Aktion in Sultan-Ahmet überschnitten.“

In den vergangenen Jahren trat die DHKP-C immer wieder durch gezielte Terroranschläge, zumeist auf Sicherheitskräfte, in Erscheinung. So kam es im September 2012 zu mehreren Anschläge in Istanbul, bei denen zwei Polizisten starben und sieben Menschen verletzt wurden.

Internationales Aufsehen erregte vor allem der Selbstmordanschlag auf das US-amerikanische Konsulat in Ankara im Februar 2013, bei dem ein Wachmann und eine türkische Fernsehjournalistin getötet wurden.

Bei der 1994 gegründeten DHKP-C handelt es sich um eine der jüngeren unter mittlerweile mehreren hundert linksterroristischer Vereinigungen, die sich in der Tradition der 1918 gegründeten Türkischen Kommunistischen Partei sehen. Wie die kurdische PKK, in deren Schatten sie stets stand, strebt sie die Revolution in Form der Eroberung der Macht als Ergebnis eines langfristig angelegten „Volkskrieges“ an.

Die linksextreme Szene ist agil, aber zerstritten

Die hierfür erforderliche „Einheit der Arbeiterklasse“ scheiterte bislang stets an der Zerstrittenheit der sektiererischen Verbände der extremen Linken, die zum Teil auch durch die Geheimdienste angefacht wird, vor allem aber am fehlenden tatsächlichen Interesse der türkischen Werktätigen an ihrer „Befreiung“.

Die DHKP-C finanziert sich in erster Linie aus grenzüberschreitenden Aktivitäten im Bereich der Organisierten Kriminalität. Etwa 170 Personen, die im Verdacht stehen, Verbindungen zur Revolutionären Volksbefreiungspartei-Front zu unterhalten, sollen sich in Deutschland aufhalten.

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