© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  04/15 / 16. Januar 2015

Ein Land in Schockstarre
Frankreich: Nach den Terrorakten sucht das Land nach Antworten, doch selbst Gemeinschaftserlebnisse wie Republikanische Märsche übertünchen nur die Risse
Friedrich-Thorsten Müller

Es ist im Zweifel nicht die Zahl der Toten, die darüber entscheidet, wie traumatisierend die Angriffe von Terroristen für ein Land sind. Viel entscheidender ist, wie nah ein Anschlag der Herzkammer einer Gesellschaft kommt. In diesem Sinne es ist nicht übertrieben, wenn der bekannte französische Journalist Eric Zemmour die Terroranschläge vom Mittwoch letzter Woche als „den 11. September Frankreichs“ bezeichnet.

Denn die partielle Auslöschung der Satirezeitschrift Charlie Hebdo durch das islamistische Bruderpaar Said und Chérif Kouachi traf die Franzosen ähnlich wie 2001 die Flugzeugattentate auf World Trade Center und Pentagon die Bürger der Vereinigten Staaten.

Nicht bei allen Franzosen ist das von linken Alt-68ern herausgegebene Satire-Magazin mit seinem kompromißlosen Humor, der weder Politik noch Religion schont, beliebt. Aber kein „echter Franzose“ würde es in Abrede stellen, daß Satire rücksichts- und pietätlos sein darf, denn das ist Teil der anarchischen DNA des Landes.

Wenn die Karrikaturisten mit ihren Schmähungen des Papstes zu weit gegangen sind, zog das immer wieder Klagen vor Gericht nach sich. Aber es ist integraler Bestandteil der französischen Kultur, sich mit und über solche Zeitschriften zu streiten. Hier mit Kalaschnikows den Disput beenden zu wollen, wie das die Kouachi-Brüder am 7. Januar um 11.30 Uhr in der Redaktionskonferenz von Charlie Hebdo durch das Töten von zwölf Menschen taten, ist dagegen der größte anzunehmende Kulturbruch.

18.000 erklären sich mit Attentätern solidarisch

So erklärt sich auch die unglaubliche Resonanz der Franzosen vom vergangenen Sonntag, als 3,7 Millionen Bürger in ganz Frankreich auf die Straße gingen, um sich unter dem Slogan „Je suis Charlie“ („Ich bin Charlie“) mit den Opfern der Attentate solidarisch zu zeigen.

Schon in der Vergangenheit gab es in Frankreich islamistisch motivierte Anschläge. So wurde bereits 2011 ein Brandanschlag auf die Redaktion von Charlie Hebdo verübt, der zum Glück ohne Personenschäden blieb. Oder es gab 2012 eine Serie von Attentaten durch den algerischstämmigen Mohammed Merah in Toulouse und Montauban, mit sieben vorwiegend jüdischen Todesopfern.

Aber vielleicht auch weil die Hauptstoßrichtung islamistischen Terrors und entsprechender Übergriffe in Frankreich immer wieder die Juden waren, ging die öffentliche Meinung bisher schnell zur Tagesordnung über. Schließlich konnten solche Angriffe im weiteren Sinne als Fortsetzung des Nahostkonflikts abgetan werden, wo auch in Frankreich viele offen mit den Palästinensern sympathisieren und die staatliche Anerkennung Palästinas durch Frankreich unmittelbar bevorsteht.

In dieser Logik verwundert es nicht, daß der zweite, beinah parallel geführte Terrorangriff vom 8. Januar durch den aus Mali stammenden Amedy Coulibaly auf eine Polizistin und einen jüdischen Supermarkt an der Porte de Vincennes mit fünf Toten im Schatten der Ereignisse um Charlie Hebdo zu stehen scheint.

Dabei ist die existentielle Verunsicherung der immer noch 500.000 französischen Juden nach dieser Terrorwelle vermutlich viel größer, als die der übrigen Franzosen. Seit Jahren nimmt die vor allem arabischstämmige Gewalt gegen diese Bevölkerungsgruppe zu. Im vergangenen Jahr haben 7.000 Juden Frankreich in Richtung Israel verlassen. Das sind doppelt so viele wie im Vorjahr. Für 2015 prognostiziert das jüdische Onlinemagazin jssnews.com gar einen Exodus von 10.000 jüdischen Franzosen.

Anläßlich seiner Teilnahme mit 50 anderen Staats- und Regierungschefs am „Republikanischen Marsch“ am Sonntag in Paris wiederholte Ministerpräsident Benjamin Netanjahu darum seine Einladung an die französischen Juden, nach Israel auszuwandern. Es wird allgemein als eine Bankrotterklärung der Einwanderungspolitik angesehen, daß die Regierung nach einer 53stündigen erfolgreichen Terroristenjagd nun 5.000 Polizisten zur Bewachung jüdischer Einrichtungen abstellen muß.

Überhaupt steht Frankreich nach dem Abklingen des ersten Schocks und mit Abstand zu dem großen Gemeinschaftserlebnis „Republikanischer Marsch“ eine harte Landung im Alltag eines gescheiterten Einwanderungslandes bevor. Für kurze Zeit hat die sozialistische Regierung das Heft des Handelns an sich reißen können, indem sie mit fast 90.000 Sicherheitskräften die drei islamistischen Attentäter eliminierte und die vielleicht größte Demonstration in der Geschichte Frankreichs auf die Beine stellte.

Im ersten Moment ist es der Regierung Hollande dabei auch gelungen, es unanständig aussehen zu lassen, aus den schlimmen Ereignissen politisches Kapital schlagen zu wollen. Unter dem Vorwand, daß der libertäre Charlie Hebdo ein erklärter Gegner des Front National sei, schloß man in Paris sogar kurzerhand die Partei Marine Le Pens aus der Organisation des „Republikanischen Marsches“ aus. Eine Entscheidung, die nicht nur die Vorsitzende des FN, sondern auch Laurent Wauquiez, der Generalsekretär der bürgerlichen UMP, heftig kritisierte: „Es ist nicht akzeptabel, daß der Front National von einer Demonstration der nationalen Einheit ausgeschlossen wird“, verkündete er in der offiziellen Pressemitteilung der Partei. Marine Le Pen unterstrich darüber hinaus, daß man damit die bei der Europawahl mit 25 Prozent der Stimmen stärkste politische Gruppierung in Frankreich ausgrenze. Gleichzeitig rief sie ihre Anhänger dazu auf, dafür an den Solidaritätsdemonstrationen außerhalb von Paris teilzunehmen.

Erkennbar ist das Bemühen in Frankreich, den islamistischen Hintergrund der Anschläge herunterzuspielen und lieber von allgemeinem Terrorismus zu sprechen. Jeder Imam, wie Tareq Oubrou aus Bordeaux, der seine Gläubigen zur Teilnahme an Protesten gegen die Attentate aufrief, wird mit maximaler Medienaufmerksamkeit bedacht. Oder man freut sich über eine kleine Demonstration von 400 Moslems in der 80.000-Einwohner-Stadt Pau gegen die Anschläge.

Gleichzeitig überschlugen sich die Fernsehreporter bei der Berichterstattung über die Großdemonstration in Paris mit Hinweisen auf die „vielen Demonstranten sämtlicher Hautfarben“, womit der Eindruck vermittelt wurde, daß überdurchschnittlich viele Moslems gegen den „Mißbrauch ihres Glaubens“ demonstrieren würden.

Dagegen spotten in Städten wie Marseille oder Roubaix Blogger in den sozialen Netzwerken, gar nicht gewußt zu haben, daß es bei ihnen noch so viele „Weiße“ gebe. Man könne bei den Demos geradezu von Apartheid-Veranstaltungen sprechen. Ein düsteres Bild zeichnet auch der kursierende Tweet „Je suis Kouachi“, auf dem sich in kürzester Zeit 18.000 Unterstützer mit den Attentätern solidarisch erklärten.

Sarkozy fordert Debatte über Einwanderung

Die Biographien der drei getöteten Attentäter geben ebenfalls wenig Anlaß zur Hoffnung, daß Frankreich und der westlichen Welt solche und ähnliche Heimsuchungen in Zukunft erspart bleiben könnten. Dysfunktionale oder nicht vorhandene Familien – die Kouachi-Brüder waren Waisen, ein gerade in Einwanderervierteln völlig marodes Bildungssystem und 25 Prozent Jugendarbeitslosigkeit im wirtschaftlich stagnierenden Frankreich dezimieren die Lebenschancen insbesondere der in zweiter und dritter Generation nachgeborenen Einwandererkinder dramatisch.

Eine immer stärkere ethnische Segregation der Bevölkerungsgruppen entfremdet darüber hinaus ganze Stadtteile der französischen Mehrheitskultur. Daran können auch Heerscharen von Sozialarbeitern nichts ändern, wenn sonst kaum Berührungspunkte mit Herkunftsfranzosen bestehen und diese vielerorts als Minderheit wahrgenommen werden.

Gleichzeitig gewinnt der Islam – und dann häufig in einer gegen die „Ungläubigen“ gerichteten Ausprägung – eine stark identitätsstiftende Funktion und hilft Minderwertigkeitskomplexe in Überlegenheitsdünkel umzumünzen.

Es ist kein Zufall, daß keiner der drei Attentäter auf eine lebenslange Biographie als strenggläubiger Moslem zurückblicken konnte, was darauf hindeutet, daß sie den Islam unter Anleitung von Eiferern eher als Medium zur Kanalisierung ihrer allgemeinen Wut entdeckt haben.

Dies relativiert deutlich die Chancen moderater Imame, den nun häufig geforderten mäßigenden Einfluß auf sich radikalisierende Jugendliche auszuüben. Auch wenn sich im französischen Islamrat CFCM – mit dem Rücken zur Wand – sämtliche Strömungen des Islam auf einen Aktionsplan verständigen wollen, sie werden auch künftig viele junge Menschen nicht erreichen können.

Ein weiteres Problem ist das viel zu laxe – aber anders kaum noch zu bezahlende – Justizsystem: Hätte zum Beispiel Amedy Coulibaly auch nur die letzte seiner Haftstrafen ordnungsgemäß bis Ende 2018 absitzen müssen, wären seine fünf Opfer heute noch am Leben.

Es wird nicht lange dauern, bis Frankreich nach diesem Moment der Trauer und des Innehaltens wieder zur politischen Tagesordnung zurückkehrt. Premier Manuel Valls kündigte bereits am Montag an, Haßprediger in den Gefängnissen künftig in Einzelhaft nehmen zu wollen und sich ansonsten stärker um die Jugend in den Einwandererfamilien kümmern zu wollen. Des weiteren hat er den verstärkten Schutz nicht nur jüdischer, sondern aller gefährdeter öffentlicher Einrichtungen angeordnet. UMP-Chef Nicolas Sarkozy fordert darüber hinaus eine parteiübergreifende Kommission und will eine nationale Debatte über das Thema Einwanderung.

Die Zeit wird zeigen, ob Frankreich das für ausreichend erachtet, oder eher Le Pen folgt, die sofort konkrete Taten anmahnt, wie den Ausstieg aus dem Schengen-Raum, eine Verschärfung des Staatsbürgerschaftsrechts und die Ausweisung krimineller Einwanderer. Dazu legte der stellvertretende FN-Vorsitzende Louis Aliot den Finger auf die Wunde: „Da haben sich mit dem Republikanischen Marsch Politiker eine Demonstration gegen die Konsequenzen der eigenen Politik unter den Nagel gerissen.“

Mit der teilweisen Verärgerung der islamischen Gemeinde in Frankreich über das nun in Drei-Millionen-Auflage erscheinende neue Charlie-Hebdo-Magazin geht der weltanschauliche Konflikt in Frankreich indes in die nächste Runde. Diese Woche erscheint das Blatt mit einer Mohammed-Karikatur als Titel, diesmal mit Träne im Auge und dem Schild „Ich bin Charlie“, an den Kiosken.

Foto: Trauermarsch in Saint-Étienne für die Opfer des Terrors: Über 3,7 Millionen Bürger beteiligten sich am vergangenen Sonntag in ganz Frankreich an den Republikanischen Märschen

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