© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  04/15 / 16. Januar 2015

Pankraz,
Till Eulenspiegel und die übergenaue Rede

Vor fünfhundert Jahren, im Frühjahr 1515, erschien in Straßburg in niederdeutscher Mundart ein Buch, das Weltgeschichte machen sollte. Sein Titel: „Ein kurtzweilig Lesen von Dil Ulenspiegel geboren uß dem Land zu Brunßwick, wie er sein leben volbracht hat“. Sein Verfasser: Hermann Bote (etwa 1450 bis etwa 1520), ein hinkender und ewig querköpfiger Braunschweiger Ratsherr und Chronikenschreiber, von dem 1498 – ebenfalls in Straßburg – schon einmal ein, wie man heute sagen würde, „Riesenbestseller“ erschienen war: „Reynke de vos“ („Reinecke Fuchs“).

Der „Eulenspiegel“ von 1515 fand reißenden Absatz. Noch während des 16. Jahrhunderts erschienen in Deutschland vierzig Neuauflagen, und das Buch wurde auch sofort in die meisten anderen Sprachen Europas übersetzt. Genau wissen die Gelehrten freilich nicht, ob es wirklich Hermann Bote gewesen ist, der Reinecke Fuchs und Till Eulenspiegel in voller Ausführlichkeit erfunden hat, fest steht aber, daß er es war, der als erster gewissen damals im Volksmund umlaufenden Symbolgestalten feste Kontur und Stimme verlieh – eine herrliche literarische Tat, die immer noch viel zuwenig gewürdigt ist.

Die in dem Eugenspiegel-Buch von 1515 fixierten 96 Episoden sind zum Orientierungspunkt aller übrigen nachfolgenden „Schelmenerzählungen“ des Zeitalters geworden, bis hin zu Nasreddin Hodscha aus Buchara, dem Oberschelm des Orients, der bald nach Eulenspiegel seinerseits das Morgenland aufzumischen begann (und den die Bolschwiken nach der russischen Oktoberrevolution von 1917 – vergeblich – als „eigentlichen“ Eulenspiegel aufzubauen versuchten, von dem das abendländische Original alle Pointen hinterrücks übernommen, vulgo: geklaut hätte).

Heute gilt Eulenspiegel in aller Welt als Inbegriff des Humors und der Satire überhaupt; faktisch jede irgendwie humorige Intervention wird als „Eulenspiegelei“ abgeheftet, so als gäbe es nur eine einzige Art, Scherze und Witze zu machen, komische Situationen zu erzeugen oder allgemein als „normal“ und „angemessen“ geltende Zustände im grellen Licht der Satire erscheinen zu lassen. Demgegenüber wäre festzuhalten, daß die typische Eulenspiegelei ein Spezialfall des Spaßmachens ist, wenn auch ein fundamentaler, alles übrige überschattender.

Eulenspiegel, so wäre festzuhalten, ist von Natur aus kein Spaßmacher, sondern ein überzeugter Ernstnehmer, einer, der zwar nicht das Leben, dafür aber die Sprache, mit der wir dem Leben beizukommen suchen, furchtbar ernst nimmt. Sämtliche komischen Situationen, die Hermann Botes Eulenspiegel herbeiführt, laufen darauf hinaus, daß er den Menschen, denen er begegnet, beweist, daß ihr Reden über das, was sie tun oder begehren, äonenweit entfernt ist von dem, was sie wirklich tun oder begehren. Wenn sie ihre Worte ernst nähmen, so seine Botschaft, müßten sie genau das Gegenteil von dem tun, was sie wirklich tun.

Man denke an die Episode mit dem stolzen Bäcker, bei dem Eulenspiegel als Geselle arbeitet. Der Meister nennt seine Brote übermütig „Meerkatzen“ und hat damit bei den Käufern viel Erfolg. Sein Geselle aber nimmt ihn beim Wort und trägt, statt Brot zu backen, lauter wimmelnde, hüpfende Meerkatzen in die Bäckerei. Es gibt ein Chaos. Oder die Episode mit dem Herzog von Lüneburg. Der droht Eulenspiegel, er werde ihn „auf den Totenacker befördern“, wenn er sich je wieder in seinem Land blicken ließe. Doch Eulenspiegel erscheint trotzdem – sitzend in einem Wägelchen voller Friedhofserde, gezogen von einem Esel.

Seine Leidenschaft, die Taten der Menschen am Spiegelbild ihrer Worte zu messen, hat den Eulenspiegel natürlich zu einem Lieblingshelden revolutionärer Schriftsteller und Ideologen werden lassen. Der flämisch-wallonische Autor Charles De Coster erhob ihn in seinem Roman „La Légende d’Ulenspiegel“ zum Freiheitshelden im Kampf der Niederländer gegen die spanische Fremdherrschaft.

Bei Bertolt Brecht erscheint er als Agitator der deutschen Bauernkriege: Er ist da zunächst ein armer Schausteller, der sich auf Jahrmärkten herumtreibt und den Leuten mit billigen Possen ein paar Kreuzer abluchst, aber eines Tages gerät er an einen Edelmann, der ihn auf gröbste Weise wegjagt, und nun schwört er den „Herren“ Rache und geht ohne viel Nachdenken zu den rebellischen Bauern über.

Dem geistigen Ursprung der Gestalt näher kam Gerhart Hauptmann in seinem an sich eher kuriosen Epos „Des großen Kampffliegers, Landfahrers, Gauklers und Magiers, Till Eulenspiegel Abenteuer, Streiche, Gaukeleien, Gesichte und Träume“ von 1928. Eulenspiegel wird dort in die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg versetzt, fungiert als Visionär in einer von Krisen heimgesuchten Zeit, spricht viele Themen an – und hinterläßt doch nur Irritation, Verblüffung und Rätselraten.

Hauptmann, der sich gern mit Goethe verglich oder sich gar für einen zweiten Goethe hielt, nannte seinen „Eulenspiegel“ gelegentlich „meinen Faust II“, was auf jeden Fall übertrieben ist, zumindest in die Irre führt. Die Gestalt des Eulenspiegel ist kein Forscher.Welterkunder und Weltveränderer, vielmehr handelt es sich um die Inkarnation des geborenen Großskeptikers, der davon überzeugt ist, daß es keine Brücke zwischen Sprache und Welt gibt und die Welt uns ein ewiges Rätsel bleiben muß.

Eine Abbildung in der Straßburger Ur-Edition des Eulenspiegel zeigt ihn mit einem Spiegel in der einen, einer Eule auf der anderen Hand. Seit der griechischen Antike gibt es die literarische Tradition, sich selbst und seinen Mitmenschen den Spiegel vorzuhalten, um zu erkennen, wer man wirklich sei. Andererseits gilt der Spiegel aber vielerorts als Narrenattribut, als Instrument der leeren Eitelkeit.

Die Eule hingegen ist in wahrscheinlich allen Kulturen das große Symbol der Weisheit. Sie blickt auf dem Straßburger Bild nicht in den Spiegel, sondern dem Betrachter gerade ins Gesicht. Das soll wohl sagen: Die Wahrheit bleibt ein Geheimnis.

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