© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  04/15 / 16. Januar 2015

GegenAufklärung
Kolumne
Karlheinz Weissmann

Das verzweifelte Bemühen, den Anschlag auf die Satirezeitung Charlie Hebdo in den gewohnten Deutungsrahmen einzupassen, die Irritation über den offenen Brief des französischen Generals Martinez an Präsident Hollande nach dessen Forderung, jedem Einwohner, egal welcher Herkunft, das Wahlrecht zu geben, die gewalttätigen Proteste in den römischen Vorstädten gegen die weitere Unterbringung von Migranten, die schäumende Wut des Establishments angesichts von Pegida und das angstvolle Starren auf das Abschneiden der Schwedendemokraten bei den kommenden Reichstagswahlen, das alles sind Indizien dafür, wie weit „pays réel“ und „pays légal“ nicht nur hierzulande auseinanderdriften. Die Begriffe unterscheiden das „wahre Land“ der einfachen Leute, in der Provinz, die arbeiten, Kinder aufziehen, Steuern zahlen und sich für das Ganze nur dann interessieren, wenn sie ihre Existenz bedroht sehen, vom „legalen“, also „offiziellen Land“ der Modernen, der Wurzellosen, der Mächtigen in den Metropolen und ihrer Entourage, die so oder so berufsmäßig von der Politik leben. Für gewöhnlich sieht der „pays réel“ dem Treiben des „pays légal“ wohlwollend oder achselzuckend zu, aber es kann eben durchaus geschehen, daß die Entwicklung einen Punkt erreicht, an dem die übliche Passivität umschlägt in ihr Gegenteil.

Bildungsbericht in loser Folge

LXVIX: Die Schweiz gehört zu den wenigen europäischen Ländern, die dem Abitur-für-alle-Wahn nicht verfallen sind. Der sogenannte „Lehrplan 21“ könnte das ändern und hat deshalb die volle Unterstützung von OECD und Politischer Klasse und trifft auf den Widerstand von SVP und Basis.

Beim Anschlag in Paris ging es nicht in abstracto um eine Attacke auf die Freiheit oder die Aufklärung oder die Republik, sondern in concreto um die Ermordung europäischer Journalisten durch Terroristen mit Migrationshintergrund, nicht um religiösen Fanatismus im allgemeinen, sondern um islamischen im besonderen.

Wer angesichts des Aufstiegs der Ökologie- und Friedensbewegung in den siebziger Jahren und der Etablierung der Grünen in den achtziger Jahren deren Durchdringung mit wahlweise moskau-, peking- oder tiranahörigen Kommunisten sowie RAF-Verstehern oder der Menge an Vorstrafen in ihrer Führungsmannschaft oder der Fixierung auf Verschwörungstheorien in der Masse (von der Annahme, daß das Großkapital im Bunde mit den Mächtigen und den Medien die Atomindustrie stütze, bis zur Behauptung, weißer Zucker diene der Verwandlung der Bevölkerung in Zombies) geglaubt hatte, daß damit die Sache selbst getroffen sei, saß einem folgenschweren Irrtum auf.

Die Zeitschrift Geo führt unter ihren Lesern eine „Große Umfrage“ zum Thema „Welche Macht haben Rituale?“ durch. Dabei geht es um alle entscheidenden Bereiche: die Bedeutung von Ritualen für das Selbstverständnis einer Kultur, für die Stabilisierung der Gemeinschaft, für die Initiation, für die Erziehung. Der Vorgang steht nicht isoliert da. Im Bereich des Populärwissenschaftlichen kann man die Beschäftigung mit ähnlichen Zusammenhängen seit einiger Zeit beobachten. Ganz froh wird man der Sache trotzdem nicht. Denn bestenfalls geht es um Verständnis für Defizite, unter denen eine atomisierte Gesellschaft leidet, wahrscheinlicher um ein Signal der Hilflosigkeit, weil hier nach Einsicht in die Funktion des Rituals ernsthaft geglaubt wird, es ließen sich aufgrund dessen neue „erfinden“. Die Macht der Rituale beruht aber nicht zuletzt darauf, daß ihre Stiftung verschleiert und ihre Annahme wenig mit ihrer wohltuenden Wirkung zu tun hat.

Folgt man der Argumentation des Mainstreams, gibt es einen zwingenden Zusammenhang zwischen Auschwitz, Rechtsradikalismus, Fremdenfeindlichkeit, Pegida und AfD und gar keinen zwischen Masseneinwanderung, Islam, Islamismus, Mordanschlägen und der Dauerbedrohung durch Dschihadisten mitten im Abendland.

Man kann gegen Amazon sagen, was man will, wenigstens wird der Kunde gesiezt.

„Massenbewegungen sind elementare Vorgänge; sie sind Durchbrüche, sind Entfesselungen menschlicher Urkräfte. Sie treten auf, wenn Lebensordnungen zerfallen, gesellschaftliche Zustände sich zersetzen, der bisher festgefügte Boden menschlichen Daseins zu erbeben begann. Da werden überlieferte Anschauungen fragwürdig; ererbte Wertungsweisen überzeugen nicht mehr; alte Gewohnheiten wirken unzeitgemäß; moralische Bindungen verlieren ihre Kraft. Was heilig war, ist entweiht; wo Ehrfurcht gewaltet hatte, wagt sich Zudringlichkeit vor. Man entschlägt sich der geistigen Zucht, in die man ehedem genommen worden war und gibt die seelische Haltung preis, die man einst geglaubt hatte, sich selbst schuldig zu sein.“ (Ernst Niekisch)

Die nächste „Gegenaufklärung“ des Historikers Karlheinz Weißmann erscheint am 30. Januar in der JF-Ausgabe 6/15.

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