© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  04/15 / 16. Januar 2015

Ein kritischer Geist in Verzug
Ein müdes Themenheft zum ungarischen Philosophen und Polit-Kommissar Georg Lukács
Thomas Kuzias

Die erst seit 2007 erscheinende Zeitschrift für Ideengeschichte ist ein erlesenes und großzügig mit Mitteln ausgestattetes Periodikum. Das aktuelle Heft (Winter 2014) ist dem ebenso wichtigen wie brisanten Linksideologen Georg Lukács gewidmet und erweist sich als Produkt des erbaulich-korrekten Zeitgeistes der Berliner Republik.

Die Herausgeber legen dem Leser drei thematische Teilbereiche vor. Mit Agnes Heller, Fritz J. Raddatz und Iring Fetscher kommen prominente Zeitzeugen zu Wort, die Lukács noch persönlich kannten, mit ihm zusammenarbeiteten und sich ideologisch vorbehaltlos in den Dienst seines Werkes gestellt haben. Zwei akademisch gehaltene Aufsätze bilden den Kern des Heftes; all dies wird durch zahlreiche Dokumente und Funde aus dem Lukács-Archiv in Budapest umrahmt.

Um es gleich vorweg zu sagen, fest etablierte Irrtümer zu Lukács’ Denk- und Lebensweg werden zuverlässig bewahrt: Zum Beispiel die Mär, daß sein Übertritt zum Kommunismus aufgrund der russischen Oktoberrevolution ein Bekehrungserlebnis gewesen sei. In Wahrheit war seine Entscheidung für Sozialismus und Marxismus lange vor dem Ertsten Weltkrieg gefällt worden. Oder die Herausgeber beklagen, daß es keine ausführliche Biographie zu Lukács gebe, doch eine solche liegt längst vor (Arpad Kadarkay, Georg Lukács. Life, Thought, and Politics, Oxford 1991).

Überhaupt fällt auf, daß die Autoren die reiche internationale Literatur zum Thema eher meiden. Und wenn offensichtlich schon in Budapest recherchiert wurde, dann hätte man erwartet, daß auch neue ungarische Forschungen vorgestellt worden wären, zumal unbekannte Fakten am ehesten aus Ungarn zu erwarten sind. Dort wird beispielsweise schon längst diskutiert, daß Lukács als Politkommissar nicht nur Todesurteile fällte, sondern auch in persona am roten Terror beteiligt war, indem er sich der Kollektivierung nach bolschewistischem Vorbild widersetzende Bauern ohne Prozeß eigenhändig durch Genickschuß hinrichtete. Das Heft ist Iring Fetscher gewidmet, der im Juli dieses Jahres verstarb.

Der Aufsatz von Matthias Bormuth stellt einige interessante Funde aus Karl Jaspers Nachlaß vor, aus denen hervorgeht, daß sich Lukács durch Jaspers psychiatrische Gefälligkeitsgutachten vor dem Fronteinsatz im Ersten Weltkrieg drücken konnte. In der Natur derartiger Gutachten, was der Autor nicht reflektiert, liegt es, daß ihre Diagnosen einem außermedizinischen Zweck dienten und daher mit Vorsicht behandelt werden sollten. Ebensowenig läßt sich aus dem psychiatrischen Befund – daß Lukács von mütterlicher Seite stark belastet gewesen sei („zwei Brüder der Mutter“, wie es in Jaspers’ Attest hieß, „starben im Irrenhaus“) – der Bogen zur politischen Ideengeschichte schlagen.

Des weiteren versucht Bormuth Lukács’ ideologisch-politische Entwicklung und Radikalisierung auch noch durch dessen Liebe zu seiner zweiten Ehefrau plausibel zu machen, womit zweifelsohne nur erneut eine ideengeschichtliche Sackgasse beschritten wird – die einschlägige, Lukács’ Liebesbeziehungen diesbezüglich systematisch auswertende Studie von Lee Congdon „The Young Lukács“ (1983) sollte als Warnung dienen, auf diesem fragwürdigen Weg zu wandeln.

Lukács Utopie und Plessners Gegenmodell

Der Aufsatz von Joachim Fischer vergleicht die alternativen Sozialphilosophien von Lukács und dessen liberalem Antipoden Helmuth Plessner unter dem Gesichtspunkt von Gemeinschaft versus Gesellschaft. Fischer macht darauf aufmerksam, daß Pless-ner zu Lukács’ folgenreicher Aufsatzsammlung „Geschichte und Klassenbewußtsein“ (1923) ein mit seinem Buch „Grenzen der Gemeinschaft“ (1924) explizites Gegenprogramm entworfen hat, welches erst nach 1945 auf Aufmerksamkeit rechnen konnte.

Bei beiden Konzeptionen handelt es sich, darauf muß man aufmerksam machen, um soziologische Utopien, wie sie für die Moderne generell kennzeichnend sind. Während Lukács’ radikalmarxistische Auffassung des Sozialen auf die Aufhebung von Entfremdung überhaupt zielte und sich faktisch zur Verwirklichung des konkreten Bürgerkrieges bediente, verblieb dem sensiblen Plessner stets nur das geschriebene Wort, um für seinen Entwurf zu werben. Plessners ideale Vorstellungen von Öffentlichkeit und Gesellschaft, die auf ein ziviles, Distanz schaffendes Miteinander abzielen, wirken bisweilen wie die Wiederbelebung des verspielten Rokoko (taktvolle soziale Distanz- und Rollenspiele unter Wahrheitsverzicht). Hinter diesem Entwurf steht zweifelsohne ein liberal halbierter Nietzsche.

„Einen Skandal um Lukács gibt es nicht“, dekretierte Joscha Schmierer vor fast fünfundzwanzig Jahren (Kommune, 8/1991) – in diese Zeit halbherziger Revisionsversuche geistesgeschichtlicher Fehlurteile fühlt sich der Leser der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift für Ideengeschichte zurückversetzt. Mit den gesetzten Akzenten könnte das privilegierte Periodikum zumindest mit diesem Heft ohne weiteres Anspruch auf den Titel Zeitschrift für Kulturmarxismus erheben, nicht nur das ausgesparte Titelthema „Kommissar Lukács“, auch die anderen Themen gewidmeten Beiträge legen dies nahe.

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