© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  05/15 / 23. Januar 2015

Den Nerv getroffen
„Lügenpresse“: Die Empörung der Medien über den Begriff ist scheinheilig
Thorsten Hinz

Das Wort wirkt wie ein Donnerhall: Lügenpresse! Den Journalisten der etablierten Medien treibt es die Zornesröte und auch Angstschweiß ins Gesicht. Eine „unabhängige Jury“ aus Sprachwissenschaftlern hat es zum „Unwort des Jahres“ erklärt, weil es „bereits im Ersten Weltkrieg ein zentraler Kampfbegriff“ gewesen sei und „auch den Nationalsozialisten zur pauschalen Diffamierung unabhängiger Medien“ gedient habe. Ja. Und trotzdem ist die Entscheidung so falsch, wie ihre Begründung dumm ist. Mit ihr demonstrieren die Experten, daß sie demselben ideologischen Überbau angehören wie die kritisierten Medien.

Das Wort „Lügenpresse“ war der Versuch des kaiserlichen Deutschland, sich der übermächtigen – und tatsächlichen – Lügenkampagne seiner Kriegsgegner zu erwehren. Der Begriff verknappte einen unbestreitbaren Sachverhalt, er war (und ist) bildhaft, einprägsam und ein Signal zur Attacke. Kein Wunder, daß auch Nationalsozialisten ihn für ihren Zweck benutzten.

Ein Schicksal, das auch den „Eisernen Vorhang“ ereilte, der ebenfalls im Ersten Weltkrieg kreiert wurde. Joseph Goebbels holte ihn im Februar 1945 hervor, um die Westmächte vor einer bedingungslosen Kapitulation Deutschlands zu warnen. Mitten durch Europa würde ein „Eiserner Vorhang“ niedergehen, hinter dem Stalin sein Schreckensregime ausbreitete. Der Gebrauch durch den Meisterdemagogen hielt Winston Churchill nicht davon ab, nur ein Jahr später den Begriff in seine Fulton-Rede aufzunehmen, in der er zum Kampf gegen die kommunistische Herausforderung aufrief. Kein vernünftiger Mensch bezweifelt die Berechtigung des Appells und des dramatischen Bildes. Bis heute gehört der „Eiserne Vorhang“ zum Bestand des politisch-historischen Vokabulars. Genauso unbefangen kann man das Wort „Lügenpresse“ benutzen. Es gibt kein besseres, um die aktuelle Praxis und Verfaßtheit der Medien auf den Punkt zu bringen.

Es geht nicht um die unvermeidlichen Fehler, die unter Zeit- und Konkurrenzdruck, aus Unachtsamkeit oder Flüchtigkeit passieren. Gemeint sind bewußt falsche Aussagen, die auf Täuschung der Adressaten angelegt sind, sowie die Unterschlagung relevanter Informationen und Zusammenhänge, die suggestiven Benennungen, Insinuationen und andere subtile Varianten der Unwahrheit.

Überhaupt nicht subtil, sondern grobschlächtig lügt und hetzt die FAZ, wenn sie einen Herausgeber-Kommentar veröffentlicht und eine Karikatur auf ihre Onlineseite stellt, die eine Verwandtschaft zwischen den islamistischen Mördern in Paris und den Demonstranten in Dresden behaupten. Gelogen wird, wenn friedliche Proteste als „Aufmarsch“ bezeichnet und damit Assoziationen zu militanten Formationen bis hin zur SA hergestellt werden. Die Lüge wird verdoppelt, wenn gleichzeitig gewalttätige Autonome zu „Aktivisten“ oder „Gegendemonstranten“ geadelt werden. Die Medien machen sich zum Werkzeug der Lüge, wenn sie scheinbar neutral den türkischen Ministerpräsidenten zitieren, der Bürgerproteste in Deutschland mit dem „Islamischen Staat“ gleichsetzt. Oder wenn sie wie auf Kommando die unwahrscheinliche Erkenntnis verbreiten, daß „Migranten“ pauschal die deutschen Sozialkassen auffüllten. Oder wenn sie Euro-Kritiker als „Europa-Feinde“ diffamieren.

Der Chefredakteur der Zeit, Giovanni di Lorenzo, der sich auf der Titelseite „gegen das Naziwort der ‘Lügenpresse’ scharf“ verwahrt, breitet im Wirtschaftsteil auf drei Seiten ein liebedienerisches Interview mit EZB-Chef Mario Draghi aus und garniert es mit zehn Fotos, was an den Personenkult um die ehemaligen kommunistischen Staatslenker erinnert. Durch die Mitarbeit an der Propagandainszenierung der Macht hat er sich zumindest in den Grenzbereich zur Lügenpresse begeben.

Die „Lügen“ sind, wie gesagt, keine zufälligen oder individuellen Entgleisungen, sondern organisierte Manipulationen, die sich zu einem politisch-ideologischen Programm fügen, das sich mit den Stichworten: Globalismus, Multikulturalismus, Genderismus und Treue zur Pax Americana, grob umreißen läßt. Jenseits seiner Alternativlosigkeit, wird ständig behauptet, beginne die braune Zone.

Die Unterschiede zwischen bürgerlich und linksalternativ, konservativ oder liberal, auf die die Presseorgane früher großen Wert legten, sind darüber so gut wie verschwunden. Das liegt zum Teil am weltanschaulichen Gleichklang der Journalisten, an der ähnlichen Konditionierung ihres Bewußtseins. Zudem werden vor allem die Online-Medien von einem professionellen Prekariat betrieben, das sich erhöht, indem es andere herabsetzt, und das gar nicht anders kann, als am System mitzuwerkeln. Manche möchten wohl, dürfen aber nicht. Die Medien befinden sich in der Hand weniger großer Konzerne, die untereinander, international und mit Strategie- und Lobbygruppen vernetzt sind. Für den einzelnen bleibt da wenig Spielraum.

Gegen diese geballte Macht wehren sich die „Lügenpresse“-Rufer in dem bewußten oder unbewußten Wunsch, „in der Wahrheit zu leben“ (Václav Havel). Dieser Wunsch geht über das Politische hinaus. Es geht darum, einen Rest persönlicher Autonomie vor dem organisierten Irresein zu retten. Denn, so schreibt Arnold Gehlen: „Teuflisch ist, wer das Reich der Lüge aufrichtet und andere Menschen zwingt, in ihm zu leben. (...) Der Teufel ist nicht der Töter, er ist Diabolos, der Verleumder, ist der Gott, in dem die Lüge nicht Feigheit ist, wie im Menschen, sondern Herrschaft. Er verschüttet den letzten Ausweg der Verzweiflung, die Erkenntnis, er stiftet das Reich der Verrücktheit, denn es ist Wahnsinn, sich in der Lüge einzurichten.“

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