© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  05/15 / 23. Januar 2015

„Kein Wunder, wenn einige durchdrehen“
Ausnahmezustand: Die französische Hauptstadt steht noch immer unter dem Eindruck der Attentate islamistischer Terroristen
Hinrich Rohbohm

Ein großer grüner Bleistift, gut eineinhalb Meter lang, liegt auf dem Boden. Er ist in der Mitte zerbrochen. Ein Symbol, das den Terroranschlag auf Journalisten verdeutlichen soll. Symbole wie diese sieht man häufig dieser Tage rings um die Rue Nicolas Appert. Hier, im 11. Arrondissement von Paris, befinden sich die Redaktionsräume der französischen Satirezeitschrift Charlie Hebdo. Absperrgitter sind vor der Straße aufgestellt, davor stehen schwer bewaffnete Uniformierte. Polizisten auf Motorrädern fahren durch das Viertel. Vor dem Gebäude von Charlie Hebdo parkt ein Einsatzwagen der Gendarmerie.

„Diese Extremisten müssen bekämpft werden!“

Paris ist im Ausnahmezustand, die Regierung rief die höchste Terrorwarnstufe aus. Soldaten in Tarnuniformen und mit Maschinenpistolen in den Händen patrouillieren um die Häuserzeilen, nachdem hier am 7. Januar die islamistischen Brüder Said und Chérif Kouachi elf Mitarbeiter von Charlie Hebdo sowie einen Polizisten brutal niedergeschossen hatten. Ein Terroranschlag, der für Frankreich die höchsten Opferzahlen seit 1961 zur Folge haben sollte.

In der an die Rue Nicolas Appert angrenzenden Passage Sainte-Anne Popincourt haben sich ganze Hügel aus Blumen aufgetürmt. Unzählige brennende Kerzen flackern auf dem Straßenasphalt. Kränze mit Trauerbekundungen stehen vor den Absperrgittern. Einer davon wurde vom amerikanischen Außenminister John Kerry persönlich abgelegt. Die Betroffenheit über die ermordeten Journalisten ist groß.

Eine Frau um die Fünfzig steht schluchzend zwischen den Blumenhaufen. Fassungslos blickt sie sich um, die Hand vor den Mund gepreßt. Immer wieder kommen Menschengruppen, legen Blumen nieder, schreiben auf Zetteln Worte der Anteilnahme.

Es ist Mittwoch, der 7. Januar, als gegen 11.30 Uhr die algerischstämmigen Brüder Said und Chérif Kouachi ihren Überfall auf die Redaktionsräume von Charlie Hebdo beginnen. Sie haben Sturmgewehre dabei, russische Kalaschnikows. Im Eingang erschießen sie einen Wartungstechniker, ehe sie die Cartoonistin Corinne Rey im Treppenhaus zwingen, den Zugangscode zu den Redaktionsräumen einzugeben. Dann eröffnen sie das Feuer auf die Journalisten. Neun von ihnen sterben ebenso im Kugelhagel wie der Personenschützer des Herausgebers Stéphane Charbonnier, während die Täter „Allahu Akbar“ rufen. Das Duo flieht in einem auf der Straße bereitgestellten Fahrzeug.

Später erschießen sie auf dem Boulevard Richard-Lenoir, keine 200 Meter von der Redaktion entfernt, einen Polizisten. Einem Anwohner gelingt es, die Tat per Videoaufnahme festzuhalten. Darin ist zu sehen, wie die Terroristen auf den Beamten Ahmed Merabet feuern, einen arabischstämmigen Franzosen muslimischen Glaubens. Das Opfer sackt auf dem Gehweg zusammen. Die beiden Algerier nähern sich ihm mit vorgehaltener Waffe. Flehend hebt Merabet den Arm. Doch die Islamisten kennen keine Gnade. Einer der Brüder ermordet den wehrlos am Boden Liegenden aus nächster Nähe per Kopfschuß.

Unmittelbar auf der gegenüberliegenden Seite der Fahrbahn befindet sich eine Bäckerei mit großen Glasfenstern. Ein Ort, an dem der Mord eigentlich nicht unbemerkt geblieben sein kann. Doch der Inhaber gibt sich wortkarg, will nichts von der Tat mitbekommen haben. Auch andere Nachbarn in der Nähe hüllen sich in Schweigen. Haben sie Angst? „Ich sage nichts darüber“ und „Ich habe nichts gesehen“ lauten oftmals die knapp bemessenen Antworten der Anwohner. Einige ringen sich selbst dazu nicht durch. Ein uncharmantes „Au revoir“ gibt zu verstehen, daß ein Gespräch mit der Presse nicht erwünscht ist.

„Wir hatten etwas knallen gehört“, meint dagegen ein unweit vom Anschlagsort wohnendes Ehepaar gegenüber der JUNGEN FREIHEIT. Aber an einen Terroranschlag hätten sie „in dem Moment“ nicht gedacht. „Das sind Jugendliche, die noch ihre letzten Feuerwerkskörper von Silvester hochgehen lassen, dachte ich“, erzählt die Frau. Erst über das Fernsehen hätten sie erfahren, was es mit den Knallgeräuschen in ihrer Nachbarschaft tatsächlich auf sich hatte. „Wir sind zutiefst schockiert. Ich hoffe, die Politik wird angemessen auf dieses Verbrechen reagieren. Diese Extremisten müssen bekämpft werden“, fordert ihr Mann.

Zwei Tage nach der Tat verschanzt sich das Terrorduo nach einer dramatischen Verfolgungsjagd in einer Druckerei des nordöstlich von Paris gelegenen Ortes Dammartin-en-Goele, ehe es von Spezialkräften der Polizei nach mehreren Schußwechseln getötet wird.

Ein weiterer islamistischer Terrorist, der 32 Jahre alte Amedy Coulibaly, der mit den Kouachi-Brüdern in Kontakt stand, überfällt zudem einen koscheren Supermarkt, nachdem er zuvor ebenfalls eine Polizistin auf offener Straße ermordet hatte. In dem Geschäft erschießt der Mann mit malischem Migrationshintergrund vier weitere Personen, ehe Sondereinheiten der Polizei ihn töten können. Alle drei Terroristen hatten sich auf ihr Ableben eingestellt, wollten als Märtyrer sterben.

„Ich frage mich, wie lange unsere Politiker noch brauchen, bis sie erkennen, was los ist. Die gefährlichen Entwicklungen des Islamismus sind doch gerade in den Banlieues schon seit langem zu beobachten. Wenn jetzt nicht entschlossen gehandelt wird, dann werden sich solche Taten noch öfter wiederholen“, meint der Inhaber einer Brasserie, der den Islam aber nicht pauschal verurteilt sehen möchte.

Manche feiern die Mörder als Helden des Islam

Dort, in den Banlieues, den Vorstädten von Paris, feiern nicht wenige die Mörder als Helden des Islams. Etwa in Aubervilliers, einem Ort mit knapp 80.000 Einwohnern nördlich der Hauptstadt in der Nähe des Flughafens Charles de Gaulle gelegen. Grau-beige Wohnsilos dominieren hier das Straßenbild. Der Ausländeranteil bei den unter 18jährigen liegt bei 75 Prozent. Der Ort gilt als sozialer Brennpunkt mit hoher Kriminalität und hoher Arbeitslosigkeit. 2005 lieferten sich hier Jugendliche aus Einwandererfamilien tagelang Straßenschlachten mit der Polizei. Zudem gilt die Gegend als eine Hochburg des islamischen Glaubens. Eine explosive Mischung und ein idealer Nährboden für islamistische Haßprediger.

Viele Jugendliche in Aubervilliers haben die Anschläge mitbekommen. Ihre Reaktionen stimmen nachdenklich. „Die haben den Propheten beleidigt und ihre gerechte Strafe erhalten“, sagt etwa Selim, ein 17 Jahre alter Junge mit tunesischem Migrationshintergrund. Seine Freunde, mit denen er hier Fußball spielt, sehen es genauso. Einige von ihnen rufen wie zur Bestätigung „Allahu Akbar“. Andere jedoch lachen nur, machen Späße. In den Kouachi-Brüdern sehen sie mehr Vorbilder als Verbrecher. Weil sie für ihren Glauben kämpften, wie sie sagen. Und gegen die „arroganten, ungläubigen Europäer“.

Wer aber waren die beiden Terroristen? Wer hatte sie radikalisert? Eine Spur führt nach Stalingrad, eine Metrostation im 19. Arrondissement. Sie befindet sich in der Nähe des Buttes-Chaumont Parks, einem Treffpunkt für radikale Islamisten. Zahlreiche „Maghrebs“, Einwanderer aus Nordafrika, leben hier, die Arbeitslosen- und Kriminalitätsrate ist auch in dieser Gegend hoch.

Der selbsternannte Imam Farid Benyettou soll die Brüder beeinflußt und sie für die islamistische „Bruderschaft von Buttes-Chaumont“ angeworben haben. Said und Chérif Kouachi hatten Benyettou in der inzwischen abgerissenen Adda’wa-Moschee in der Rue de Tanger kennengelernt.

In dieser Gegend wollen nur wenige über die Anschläge reden. Mißtrauische, manchmal sogar haßerfüllte Blicke sind keine Seltenheit. Die Stimmung ist angespannt. Auch hier sind inzwischen schwerbewaffnete Uniformierte präsent. Sie sollen jüdische Einrichtungen in dem problematischen Bezirk vor etwaigen weiteren Anschlägen schützen.

„Wir haben die Kouachi-Brüder eine Zeitlang im Park getroffen“, verraten Issam und Nadir, zwei hier lebende Marokkaner der JUNGEN FREIHEIT. Das sei aber schon lange her, zehn Jahre oder länger. Trotzdem können sie sich noch gut an sie erinnern. Besonders Chérif sei ihnen aufgefallen. „Der hat sich immer sehr wichtig genommen“, meint Nadir. Der Park sei für viele Nordafrikaner ein Treffpunkt zum „Reden und Kiffen“, doch auch radikale Moslems würden sich hier austauschen. Was ihn wundert: „Als besonders religiös habe ich Chérif nicht in Erinnerung.“ Die Brüder seien gescheiterte Existenzen gewesen, hätten ständig Geld und neue Jobs benötigt.

„Die Anschläge hätte ich denen gar nicht zugetraut“, meint Issam. Auf den Umstand, daß einer der Täter seinen Paß im Auto vergessen hatte, meint er aber: „Ja, das kann ich mir schon vorstellen bei denen.“ Die beiden Marokkaner sind selbst Muslime. Doch die Tat verurteilen sie scharf. „Das ist nicht der Islam“, sagen sie. Aber: „Charlie Hebdo zieht unseren Glauben in den Schmutz. Da ist es kein Wunder, wenn einige durchdrehen.“

„Chérif war so ein Rapper-Typ und meinte, daß er nochmal groß rauskommen wird“, erinnert sich Nadir. Das dürfte ihm nun auf äußerst unrühmliche Weise gelungen sein.

Foto: Symbolisch: Ein überdimensionaler zerbrochener Bleistift erinnert in Paris an den blutigen Anschlag auf die Satirezeitschrift Charlie Hebdo; Blumen: Gedenken an die Opfer in der Nähe der Redaktion; Geehrt: Der ermordete Polizist Ahmet Merabet; Aubervilliers: Vorstadt-Tristesse und sozialer Brennpunkt

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