© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  05/15 / 23. Januar 2015

Rechtspflege ist oft nur blanker Hohn
Der frühere Bundesarbeitsminister Norbert Blüm knöpft sich die Mißstände im deutschen Justizwesen vor
Rolf Dressler

Er kennt das Politikgeschäft in- und auswendig. In diesem schillernden Metier darf er getrost als Ausnahmeerscheinung wahrgenommen werden. Denn über alle Schwellen und Stolperfallen hinweg hat Norbert Blüm sich Haltung, Glaubwürdigkeit und eine erfrischend klare Weltsicht bewahrt. Geradlinig steht er zu seinen geistigen und ethischen Grundüberzeugungen.

Davon zeugt auch höchst anschaulich sein neuestes Buch. Es trägt den beziehungsreichen Titel „Einspruch! Wider die Willkür an deutschen Gerichten“. Dabei wäre der Untertitel-Zusatz „Eine Polemik“ eigentlich sogar entbehrlich gewesen, weil die Kritik, die Norbert Blüm punktgenau und wortgewaltig, doch nie verletzend zum Ausdruck bringt, zuallererst die Bedrängnisse und Nöte der unmittelbar und mittelbar Betroffenen im Blick hat. Daraus sprechen die vielfältigen Lebenserfahrungen des bodenständig christlich geprägten gelernten Werkzeugmachers, Doktors der Philosophie, Theologie und Germanistik sowie des langjährigen Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung und heutigen Vorsitzenden der Stiftung Kinderhilfe.

„Unvorstellbare Zustände an deutschen Gerichten“

Aus eigener, menschennaher Anschauung zeigt der bekennende Nicht-jurist Norbert Blüm sich „bestürzt“ über viele, für ihn bis dahin schlechthin „unvorstellbaren Zustände an deutschen Gerichten“. Nur zu oft hätten dort vor allem die sogenannten kleinen Leute „nicht den Funken einer Chance, zu ihrem Recht zu kommen“. Noch dazu auffallend häufig Frauen mitsamt ihren Kindern, die vor Familiengerichten sogar noch gedemütigt werden – wie überhaupt all jene Wehrlosen, die der Raffinesse der gewieften Rechthaber, sprich von Richtern und Anwälten, einfach nicht gewachsen sind.

Der Begriff „Rechtspflege“ erscheint dem Nahbeobachter Blüm nicht mehr nur wie Schönfärberei, sondern wie blanker Hohn. Denn immer wieder geschähen auf diesem weiten Feld Dinge, die ein Leben buchstäblich total umwerfen könnten. Hinter dem Deckmantel angeblicher Unabhängigkeit der Rechtsprechung verbirgt sich nach Norbert Blüms gesammelten Eindrücken allzu oft eine Arroganz ganz eigener Art: So manche Richter und Rechtsanwälte meinen, sie könnten im Niemandsland der öffentlichen Kritik nach Belieben schalten und walten und seien dafür niemandem Rechenschaft schuldig.

Wieviel Lebens- und Menschenferne erlaubt sich eigentlich das deutsche Gerichtswesen? Das fragt sich, ersichtlich und nachfühlbar desillusioniert, der inzwischen geübte Augen- und Ohrenzeuge zahlreicher erschütternder Scheidungsverfahren vor Familiengerichten. Nur zu rasch, schreibt Norbert Blüm, vergehe einem auch noch das allerletzte Schmunzeln über gewisse rechtspflegerische Burlesken, wenn scheinbar harmlose verhandlungstaktische Finten abrupt in Herablassung, Rücksichtslosigkeit und gar verbale Brutalität ausarten. Welch eine Dramatik sich da bisweilen aufschaukelt, das dokumentieren eindrücklich persönliche Interviewgespräche, die Norbert Blüm mit direkt Betroffenen geführt hat und denen er in seinen authentischen Aufzeichnungen umfangreich Raum gibt.

Nicht von ungefähr versammelt er diese sechs Interviews unter dem Schlagwort „Jagdszenen“. Auch hierbei wird kräftig an dem hehren Bild gerüttelt, das Richter und Rechtsanwälte gern von sich und der Rechtspflege gezeichnet sehen. Diesem Tun und Treiben freilich hat der Gesetzgeber, angetrieben von einem anscheinend schier übermächtigen Zeitgeist, nach Kräften Vorschub geleistet, den Boden bereitet. Deshalb Norbert Blüms vehementer, fast schon verzweifelter Mahnruf gegen die „Ehe auf Abruf“ und das (leider längst existente) „Scheidungsrecht als Fluchthilfe“: Ehe und Familie seien „starke Stabilisatoren der Evolution“, hätten alle Erschütterungen der Geschichte, Naturkatastrophen, Kriege und Sintfluten überlebt – „bist jetzt ...“. Dennoch werde das Absurde, Widernatürliche, sagt Norbert Blüm treffend, weiter und weiter auf die Spitze getrieben, weil es von der modernen Gesellschaft angeblich so gewollt sei. Und eine Bühne dafür liefern gerade auch die Familiengerichte.

Das verwundert wenig in einem Umfeld, in welchem „fortschrittliche“ Politiker und sonstige Zeitgeistsurfer etwa das staatliche Elternbetreuungsgeld zynisch als „Beitrag zur Entprofessionalisierung der Erziehung“ (!) verächtlich machen. Mit Norbert Blüms Worten: „Mama und Papa sind demnach offenbar nur Amateure, die von ihren Kindern weniger verstehen als beispielsweise eine 20jährige kinderlose Erziehungsexpertin“ in der Kita oder anderswo. Mehr noch: Die Ehe verwandele sich – zeitgeistgemäß – in „eine vorübergehende Arbeitsgemeinschaft zur gemeinsamen Nutzung der Freizeit, die zu den guten Zeiten gehört“.

Das moderne Scheidungsrecht stülpt alles um: Jedes Einkommen landet „bei mir“ oder „bei dir“ und nicht mehr „bei uns“. Scheidung wird normalisiert. Kinder werden verstaatlicht. Die einst geschützte Privatheit der Familie verschwindet schleichend. So will es der Gesetzgeber. Parteiübergreifend. Selbst das Bundesverfassungsgericht spielt mit. Und Norbert Blüm kennt wohl auch seine „moderne“ CDU kaum mehr wieder. Sein „Einspruch“ gibt davon beredt Zeugnis – und tut dem Leser allemal gut.

 

Rolf Dressler war langjähriger Chefredakteur beim „West­falen-Blatt“ in Bielefeld.

Norbert Blüm: Einspruch! Wider die Willkür an deutschen Gerichten. Westend Verlag, Frankfurt am Main 2014, gebunden, 254 Seiten, 19,99 Euro

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