© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  06/15 / 30. Januar 2015

Stinknormale Leute von nebenan
Gehaßt, verdammt, vergöttert: Wie die Böhsen Onkelz mit ihrer Außenseiterrolle auf der Erfolgsspur fahren / Hockenheim-Konzert 2014 auf DVD erschienen
Heiko Urbanzyk

Wir haben noch lange nicht genug“, einer der unsterblichen Klassiker der Böhsen Onkelz, ist wie manch anderer ihrer Titel Programm. Nach neunjähriger Auszeit feierten die Frankfurter am 20./21. Juni 2014 mit 200.000 „Fanz“ am Hockenheimring ihre Rückkehr. Es war, als wäre die Gruppe, die ihr letztes Studioalbum 2004 veröffentlichte, nie weggewesen. Ausverkauft nach nur 40 Minuten. Die nun veröffentlichte Hockenheim-Doppel-DVD „Nichts ist für die Ewigkeit – Konzert und Dokumentation“ ist ein 240minütiges Lehrstück über das Phänomen Böhse Onkelz.

Sie sind gehaßt, verdammt und vor allem vergöttert und würden lieber stehend sterben, als auf Knien zu leben: Kevin Russell (Gesang), Stephan Weidner (Baß, Gesang), Peter „Pe“ Schorowsky (Schlagzeug) und Matthias „Gonzo“ Röhr (Gitarre). Ihr Erfolgsrezept konnte bisher keine zweite Rockgruppe entschlüsseln. Dabei klingt es so einfach: Eine geläuterte „Nazi-Band“ macht nichts anderes, als sich selbst zu feiern. Die selbstgeschaffene Außenseiterrolle ist ihr Markenzeichen. Was genauer betrachtet weinerliches Selbstmitleid ist, schweißt die Anhängerschar fest zusammen. Die Lieder über Freundschaft und Zusammenhalt kommen gut an. Die schwersttätowierten Frankfurter sind authentisch: Eine seit mehr als dreißig Jahren stabile Besetzung, die Namenskontinuität sowie durch und durch mitsingbare deutsche Texte stehen für einen sicheren Heimathafen in einer verrückten Welt.

Ben Becker hält eine Schrei-Predigt

In dieser Welt – das wissen Onkelz-Fanz – gehen die veröffentlichte und die öffentliche Meinung auseinander. Während die Böhsen Onkelz – erstmals traten sie unter diesen Namen 1980 auf – bis heute nicht im Radio zu hören sind, obwohl die Verkaufszahlen eine andere Sprache sprechen, sind sie längst ein kulturelles Allgemeingut. Der Schauspieler Ben Becker eröffnete das Konzert mit einer Bühnenansage: „Es gibt ein paar Leute da draußen, die werden mich verfluchen, weil ich hier stehe“, brüllt er, als sei die Tontechnik ausgefallen, und fügt hinzu, er stehe dort, weil er noch „keinen Bock habe umzufallen“ und weil ihn der Gedanke am Leben halte, „daß ich nicht alleine bin“.

Dann schreit Becker mit ebenso quasi-religiöser Inbrunst wie verschwurbelt weiter: „Es ist nicht gut, daß der Mensch alleine sei. Nichts ist für die Ewigkeit. Wer sein Leben findet, der wird’s verlieren, und wer es verliert um ihretwillen, der wird’s finden. Nichts ist für die Ewigkeit. Sie werden auferstehen und fliegen wie die Engel, und ich sage euch, hier wird nicht ein Stein auf dem anderen bleiben.“ Schließlich zitiert er aus der Kreuzigungsszene des Matthäus-Evangeliums: „Und siehe, der Vorhang im Tempel zerriss in zwei Stücke, und die Erde erbebte und die Felsen zerrissen und die Gräber taten sich auf“, heizt der 50jährige das Publikum weiter an, „denn Nichts ist für die Ewigkeit. Aber sie werden bei uns sein alle Tage bis an der Welt Ende.“

Nach Beckers Schrei-Predigt leitet die Neue Philharmonie Frankfurt das Rock-Spektakel bombastisch ein und begleitet es bis zum Finale. Warum auch nicht? Der tiefergelegte Polo/Golf/Corsa mit frakturgesetztem Onkelz-Aufkleber in der Heckscheibe gehört zum täglichen Erscheinungsbild auf deutschen Straßen. Hunderttausende Fans mußten früher oder später etwas beim Establishment bewegen – und sei es nur des Geldes wegen. So gaben Musikmagazine sowie Media Markt und World of Music ihre Boykotthaltung in den 1990er Jahren nach und nach auf.

Boykott? War den Onkelz immer egal. „Keine Amnestie für [die fleißig die Charts zensierenden] MTV“ keiften Kevin und Stephan der Musikindustrie 2002 auf dem Album „Dopamin“ rotzfrech entgegen. „Wir können es uns leisten, euch als unsere Feinde zu haben“, lautet eine Zeile. Keine Übertreibung für das Album, das direkt auf Platz eins in den deutschen Albumcharts einstieg. Als eines von vier Platz-eins-Alben in Folge zwischen 1998 und 2004.

Die Onkelz boten gute Gründe, die üblichen Beißreflexe der Medien zucken zu lassen. Bereits in der Zeit als Punks lieferte das Quartett mit „Türken raus!“ seine übelste Haßtirade ab. Später werden sie sich rechtfertigen, es sei jugendliche Wut über den Streß zwischen Türken und Punks gewesen. Ab 1981 leisteten sie als Skinheadgruppe einen der wichtigsten Beiträge zur Politisierung der Skinheadszene. Die Texte waren dabei fern jeglicher NS-Ideologie. In „Deutschland“ (1984) wurden die Farben Schwarz-Rot-Gold besungen, das Dritte Reich als „zwölf dunkle Jahre“ bezeichnet.

Es folgte die Phase, in der die Ex-Punks darüber sangen, daß sie totale Metaller „mit Haaren bis zum Arsch“ seien. Ein Konzert im Jahr 2001 galt der Sammlung von Spenden für „Opfer rechter Gewalt“. Boykotte, Sendeverbote und Absagen von anderen Musikern auf Festivals bestimmten trotzdem weiter das Tagesgeschehen. So weit außen standen sie allerdings nicht mehr. Sogar im „roten Dany“ Cohn-Bendit und Alice Schwarzer fanden die „Aussteiger“ Fürsprecher.

Für den Konzertmitschnitt „Vaya con Tioz“ (2007) gab es im Jahr 2008 den renommierten Musikpreis Echo, für den sie seit 1999 mehrfach nominiert waren. In der Echo-Übertragung auf RTL fiel der Name der trotzig abwesenden Preisträger nicht. Diese verkündeten auf ihrer Netzseite einen Dank an alle, „die die Eier hatten, einen Fettfleck auf ihrer weißen Weste zu riskieren. An alle anderen: Danke für nichts!“

Selbstinszenierung und Personenkult

2005 beendeten die Drogenprobleme von Kevin Russell die Karriere der Böhsen Onkelz, wie Stephan Weidner erst Jahre nach der Auflösung verriet. Bei einem spektakulären Autounfall von Russell mit über 230 Stundenkilometern an Silvester 2009 werden zwei andere Verkehrsteilnehmer lebensgefährlich verletzt. Russell, zur Tatzeit unter Drogeneinfluß, saß dafür 27 Monate im Knast. Heute ist er „clean“, sagt er und sagen seine Bandkollegen.

Da der seit Beginn lädierte Ruf zum Erfolgsrezept der Böhsen Onkelz gehört, litt die Sympathie ihrer Fans unter den Eskapaden kein bißchen, wie die Hockenheim-Euphorie zeigt. Es wäre müßig, ausrastende Fans, die an Gigantomanie grenzende, größte Rock-Bühne Europas mit Anleihen an die Frankfurter Skyline oder die perfekte Produktion in Worte zu fassen. Das wirkt nur im Heimkino. Gänsehautgarantie! Nach dem Opener„Hier sind die Onkelz“ spielt die Band viele (längst nicht alle) ihrer Klassiker, darunter „Nur die Besten sterben jung“ und „Wieder mal ’nen Tag verschenkt“ oder den WM-Kracher „Mexiko“ vom gleichnamigen 1985er Album. Während die Onkelz 2014 alles auf der Bühne gaben, stolperte bei der Weltmeisterschaft in Brasilien die deutsche Elf mit einem 2:2 gegen Ghana dem vierten Stern entgegen.

Eindrucksvoll sind die für Rockkonzerte unüblichen Bühnenansprachen und die kurzweilige, superlativschwangere Dokumentations-DVD, die tief in die Selbstinszenierung und den Personenkult um die Onkelz blicken lassen. Kevin („Er hätte zehn Tode sterben müssen!“) ist der tragische Held, der seine Drogensucht überwand und sich auf der Bühne für zwei drogenfreie Jahre feiern läßt. Vielleicht ist dies das offene Geheimnis der Onkelz, das sie so einmalig macht: Sie sind wie stinknormale Leute von nebenan mit Erfolgen, Fehlern, Niederlagen. „Proletarisch unverlogen“, lobt Ben Becker. „Sie wissen nicht, wie man lügt“, schwärmt die Vorgruppe Limp Bizkit. Wenn sie Mist bauen, gehen sie in den Knast wie jeder einfache Bürger. Kein einziger Skandal ist aus Rockstar-Allüren geboren. Jeder von uns könnte Kevin sein, den die Onkelz genau deswegen als Vorbild feiern.

In Hockenheim werden die Böhsen Onkelz Ende Juni dieses Jahres wieder E.I.N.S. und böhse fürs Leben sein. „Das größte Familientreffen der Welt geht weiter“ verkünden sie. Es ist freilich längst ausverkauft. Inzwischen gibt es indes Spekulationen, daß 2016 ein neues Album von ihnen erscheint.

DVD/Blu-ray: Böhse Onkelz. Nichts ist für die Ewigkeit – Konzert und Dokumenta-tion. tonpool

Medien GmbH, Burgwedel 2014

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