© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  06/15 / 30. Januar 2015

„Oft zerspringe ich vor Gier und Sexualität“
Nicht für Voyeure: Die Tagebücher des Staatsrechtlers Carl Schmitt aus seinen ersten Bonner Jahren 1921 bis 1924
Manfred Hofmann

Mit dem militärischen Sieg über die Mittelmächte hatte Frankreich das Hauptziel seiner „Revanche“-Politik erreicht: die Wiedergewinnung Elsaß-Lothringens. So schlug im November 1918 auch der Kaiser-Wilhelms-Universität in Straßburg die letzte Stunde. Weltberühmte Gelehrte verloren über Nacht ebenso wie die Kohorten des akademischen Fußvolks ihre Wirkungsstätte. Unter ihnen der 30jährige Privatdozent Carl Schmitt, der jedoch in München beim Generalkommando als Zensor diente, was ihm die demütigenden Umstände der Ausweisung ersparte.

Überhaupt schien sich Schmitts Schicksal ungleich günstiger zu entwickeln als das der meisten seiner exmittierten, an den Hochschulen des Reiches schwer unterzubringenden Straßburger Kollegen. Denn schon nach zweijähriger Dozentur an der Münchner Handelshochschule erfolgte zum Wintersemester 1921/22 die Berufung auf ein staatsrechtliches Ordinariat nach Greifswald, und von dort, aus dem „elenden pomeranischen Nebelwinkel“, durfte der Sauerländer zum Frühjahr 1922 ins nahezu heimatliche Bonn wechseln. Für den Kleinbürgersohn Schmitt ein traumhafter Aufstieg, der den von Depressionen geplagten, zu Weltekel, Selbstzweifel und Vanitas-Klagen neigenden jungen Professor seelisch allerdings kaum festigte, wie die Edition seiner in den ersten Bonner Jahren entstandenen Tagebücher minutiös belegt.

Wieder verdrängt in diesen Blättern, wie in den 2010 herausgegebenen Diarien der politisch ähnlich brisanten Zeit von 1930 bis 1934 (JF 13/11), das Private das Öffentliche, das kleine Ich die große Welt, die Erotik die Politik. Obwohl unter den Augen der Franzosen lehrend, die aufgrund des Versailler Diktats im Linksrheinischen als Besatzungsmacht herrschten und die im Januar 1923 überdies ins Ruhrgebiet einmarschierten, hielt der regelmäßig Völkerrecht anbietende Schmitt es für wichtiger, penibel zu notieren, wann er aufstand, wo er seinen Mokka, Wein, Likör trank, welche der lieben Kollegen „ekelhaft“ seien, wohin ihn Ausflüge führten, wie er als Junggeselle die Abende „vertrödelte“.

Und selbstverständlich, als einschläfernder Basso ostinato, wird das Bulletin zur hormonell disponierten Tagesform selten vergessen: „Furchtbare Geilheit. Zittern“, „Oft zerspringe ich vor Gier und Sexualität“, „Gestöhnt und geschrieen [so im Text!] vor Gier und Verlangen“, „traurig, gierig, geil, wüste Erektionen die ganze Nacht bis ½ 3, schauderhaft, aber keine Ejakulation“.

So genau will der Leser vielleicht gar nicht kennenlernen, was die Herausgeber die „seelischen und erotischen Obsessionen“ eines Mannes nennen, der sich 1921 endlich aus der Ehe mit einer Hochstaplerin gelöst hatte, um mit mehr oder weniger schlechtem katholischen Gewissen der sexuellen Libertinage zu frönen. Und als er sich 1923 in die 15 Jahre jüngere serbische Studentin Duška (Duschka) Todorović verliebte, die er 1926 heiratete, war das kein Grund, solchen „erotomanischen“ Ausschweifungen zu entsagen, wie ja nicht zuletzt Jagdnotizen vom Straßenstrich aus den Berliner Tagebüchern bezeugen. Man solle dies, wie es einführend unter Anspielung auf Schmitts Liaison mit dem Nationalsozialismus heißt, als Teil einer Intellektuellenbiographie verstehen, „die bekanntlich nicht nur im privaten Bereich vom moralischen Versagen gekennzeichnet ist“.

Schmitt als antibürgerlich-gebrochene Figur

Eine solche Dominanz des Privaten mag bei einem Autor, den die Herausgeber zu Recht als einen „der einflußreichsten deutschen Gelehrten des 20. Jahrhunderts“ rühmen, enttäuschen oder erschrecken. Zumal man stets geneigt ist, darüber zu spekulieren, welchen hohen Preis Schmitt seiner Libido entrichtet haben muß, wenn er sich ungeachtet des hier ausgefächerten kräftezehrenden Gefühlschaos binnen kurzem so fulminante Texte wie die „Politische Theologie“ (1922), die unverändert aktuelle Demokratiekritik „Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus“ (1923) sowie die gleichfalls unveraltete Zeitanalyse „Römischer Katholizismus und politische Form“ (1923) abringen konnte.

Auch wenn diese von Schmitt nur marginal erwähnten Arbeiten in der Masse des banal Alltäglichen fast verschwinden und tiefere Einblicke in die Ideenwelt, der sie entstammen, erst ein ergänzendes Gedankentagebuch mit dem Titel „Der Schatten Gottes“ vermittelt, rechtfertigen die Editoren den enormen Aufwand ihres Unternehmens damit, daß das üppig wuchernde Private eben doch nicht nur Privates und allenfalls für Voyeure interessant sei. Vielmehr verkörpere die „Gestalt Schmitt“, gerade mit ihren „peinlichen Seiten“, einen „Fall der modernen Kulturgeschichte“, die exemplarische Existenz des Künstlers und Intellektuellen im Ende des 19. Jahrhunderts anbrechenden „nervösen Zeitalter“.

Schärfer formuliert Schmitt selbst sein Dilemma: „große Sehnsucht nach Bürgerlichkeit“ und „gleichzeitig rasende Wut gegen die Bürgerlichkeit“. Kaum erstaunlich darum die Vorliebe für antibürgerliche Poeten wie Charles Baudelaire oder für Kritiker der Verbürgerlichung des Christentums, von Sören Kierkegaard bis Léon Bloy. Sofort nach Erscheinen vertieft sich Schmitt deshalb auch in Georg Lukács’ „Geschichte und Klassenbewußtsein“ (1923), weil dessen marxistische Entfremdungskritik den eigenen „Haß gegen eine merkantilistische, ökonomisierte Welt“ bestätigt.

Bürgerlichkeit, zumal bürgerliche Existenzformen wie Ehe und Familie im alles Hergebrachte zerdrückenden, intimste zwischenmenschliche Beziehungen revolutionierenden und das Private auf Triviales reduzierenden Hochkapitalismus zu behaupten, ist nicht nur Schmitt ziemlich mißlungen.

Denn neben den in den 1920ern weiterhin vorherrschenden akademischen „Normaltypen“ wie etwa dem Historiker Friedrich Meinecke oder dem Neurologen Karl Bonhoeffer, die sich an skandalfreien monogamen Ehen mit reichem Kindersegen erfreuten, tauchten, im Fahrwasser des Paralytikers Friedrich Nietzsche, in der Bildungselite vermehrt antibürgerlich-gebrochene Figuren auf, die wie Carl Schmitt ihr theoretisch fixiertes Unbehagen an der Moderne praktisch auslebten. So der dreimal verheiratete Philosoph Max Scheler oder der von gleich zwei Geliebten verwöhnte, masochistisch genießende Soziologe Max Weber. Vor dem Hintergrund solcher Krisenphänomene betrachtet, hilft das reiche, auch mit den jetzt vorliegenden vier dicken Tagebuch-Bänden noch nicht ausgeschöpfte autobiographische Material tatsächlich, den zeit- und kulturhistorischen Kontext von Schmitts Werk besser zu verstehen.

Gerd Giesler, Ernst Hüsmert, Wolfgang H. Spindler (Hrsg.): Carl Schmitt. Der Schatten Gottes. Introspektionen, Tagebücher und Briefe 1921 bis 1924. Verlag Duncker & Humblot, Berlin 2014, gebunden, 601 Seiten, Abbildungen, 69,90 Euro

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen