© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  07/15 / 06. Februar 2015

Seine Rede markierte den Bruch
Elitäres Selbstverständnis: Nachruf zum Tode von Altbundespräsident Richard von Weizsäcker
Karlheinz Weissmann

Der Tenor ist einhellig. Die Nachrufe auf Richard von Weizsäcker, der am vergangenen Sonnabend im Alter von 94 Jahren in Berlin verstarb, sind von Bewunderung geprägt. Weizsäcker gilt als ausgezeichneter Repräsentant der demokratischen Ordnung, als Politiker, der sich weit über die Parteigrenzen hinaus Respekt verschaffte und durch seine persönliche Ausstrahlung der oftmals blassen Bonner, dann Berliner Republik etwas aristokratischen Glanz verliehen hat.

In vielem verkörperte Weizsäcker den Konsens, der den Deutschen wichtig ist. Fragt man, wie ihm das gelingen konnte, lautet die Antwort: durch jene Ansprache, die er als Bundespräsident zum 8. Mai 1985, dem vierzigsten Jahrestag der Kapitulation der deutschen Wehrmacht, gehalten hat. Diese Rede, auf die jetzt in jeder Würdigung Bezug genommen wird, gilt als entscheidender moralischer Akt, weil sie den Bruch mit älteren Deutungen von Krieg und Nachkrieg markiert und eine Phase echter Läuterung der Deutschen eingeleitet habe. Weizsäckers Interpretation des deutschen Zusammenbruchs als „Tag der Befreiung“ und der Vertreibung als „erzwungener Wanderschaft“ und der deutschen Schuld als einer kollektiven und überzeitlichen wurde zur „Magna Charta künftigen deutschen Selbstverständnisses“ (Bernard Willms).

Der Status der Rede Weizsäckers erklärt auch das Desinteresse an der konkreten Lage, in der sie entstand. Es gibt nur kursorische Hinweise auf die fatale Rolle Friedbert Pflügers als Pressesprecher des Bundespräsidialamtes, keine auf den „Druck“, den nur Thorsten Hinz in seinem Buch „Der Weizsäcker-Komplex“ erwähnt, keine auf die Art und Weise, in der Weizsäcker das Scheitern der geschichtspolitischen Vorstöße im Vorjahr 1984 registrierte, als die Regierung Kohl geglaubt hatte, aus dem Schatten der Vergangenheit treten und den Siegermächten von gleich zu gleich begegnen zu können.

Ohne Wissen um diese Zusammenhänge ist aber nicht zu verstehen, was Weizsäcker bewogen hat, die Vergangenheit so auszulegen, wie er das tat. Denn um Auslegung ging es, nicht um die Sache selbst, eine Sache, über die er als einer, der zur Erlebnisgeneration zählte, genau Bescheid wußte.

Eigene Erfahrung und bessere Einsicht geleugnet

Am 15. April 1920 in Stuttgart als Sohn des Diplomaten und nachmaligen Staatssekretärs im Auswärtigen Amt Ernst von Weizsäcker geboren, gehörte er sogar zu einer privilegierten Gruppe, die aufgrund von Herkunft und sozialer Stellung mehr Kenntnis hatte als der durchschnittliche Zeitgenosse. Schon deshalb durfte Weizsäcker nicht ernsthaft glauben, was er in seiner Ansprache über den inneren Zusammenhang von 8. Mai 1945 und 30. Januar 1933 behauptete, daß man vom Zweiten Weltkrieg handeln könnte ohne Bezug auf den Ersten, daß der Konflikt nur aus dem Angriffswillen der einen und der Blauäugigkeit der anderen Seite resultierte, daß der Vernichtungswille der Alliierten als nachvollziehbare „Vergeltung“ für erlittenes Unrecht zu deuten sei, und daß es Hitler gelang, „das ganze Volk zum Werkzeug“ seines Hasses gegen die Juden zu machen.

Wie konsequent Weizsäcker mit seiner Rede eigene Erfahrung und bessere Einsicht leugnete, wird an diesem letzten Punkt besonders klar, denn für seine Person beharrte er darauf, weder als Sohn eines hochrangigen Beamten noch als Offizier an der Ostfront von der Tätigkeit der Einsatzgruppen oder den Vorgängen in Auschwitz gehört zu haben. Eine Position, die offenbar zusammengehört mit einer zweiten, die es ihm erlaubte, als angehender Jurist seinen Vater vor dem Nürnberger Tribunal der alliierten Siegermächte zu verteidigen und dessen Legitimität in Zweifel zu ziehen – und auch später, trotz der offenkundigen Verstrickung Ernst von Weizsäckers in die Verbrechen der NS-Führung, daran festzuhalten, daß dessen Verurteilung „historisch und moralisch ungerecht“ gewesen sei. Eine Wertung, die Weizsäcker im Hinblick auf die gegen die Wehrmacht erhobenen Vorwürfe stets umgangen hat. Wahrscheinlich ein Akt der Vorsicht im Hinblick auf die Angriffsflächen, die er als ehemaliger Offizier bot.

Immerhin hatte er es bis zum Hauptmann gebracht, war mit dem Eisernen Kreuz beider Klassen und dem Deutschen Kreuz in Gold ausgezeichnet und wurde noch am 1. April 1945 für die Nennung im Ehrenblatt des Deutschen Heeres vorgeschlagen, unter Hinweis darauf, daß er die versprengten Reste seines Regiments „durch sein leuchtendes Beispiel und notfalls durch härteste Maßnahmen“ dazu gebracht hatte, sich dem sowjetischen Vorstoß in Ostpreußen entgegenzustellen: „Durch diesen todesmutigen Einsatz“, hieß es abschließend, „wurden Tausende gerettet. Sein freiwilliger, beispielhaft schneidiger Einsatz ist besonders hoch zu bewerten, da die Masse der betreffenden Soldaten und viele Führer zu einer kämpferischen Haltung nicht mehr die Kraft hatten.“

Es gibt in Deutschland eine Verdrängung von solcher Massivität, daß nicht einmal die Tatsache selbst ins Bewußtsein tritt. Das ist die Verdrängung der Alltagsrealität des NS-Regimes und des Zweiten Weltkriegs, der Besatzungszeit und der Geburtswehen der Bundesrepublik. Das dröhnende Schweigen hat mit der „Verinnerlichung der totalen Kapitulation“ (Johannes Gross) zu tun, aber auch mit seelischem Selbstschutz und Anpassung. Sicher war es bei Weizsäcker wie bei den meisten von allem etwas.

Dazu kam das elitäre Selbstverständnis, das nicht nur seinen Entschluß erklärt, in der Bundesrepublik eine politische Karriere anzustreben, sondern auch das zu vermeiden, was bei naiver Betrachtung erwartbar schien: Weizsäcker schloß sich in den 1950er Jahren zwar der Union an, aber nicht als Protagonist ihres evangelisch-konservativen Flügels, sondern als „Modernisierer“. Er folgte damit einem Verhaltensmuster prominenter Standesgenossen (Klaus von Bismarck, Ludwig von Friedeburg, Rudolf von Thadden, Christian von Krockow, Peter von Oertzen, Marion Gräfin Dönhoff), die alle früh und genau erkannten, daß Bonn nicht Weimar sein würde und der große Trend nach links ging.Die frühen Stellungnahmen Weizsäckers erklären sich vor diesem Hintergrund: die neutrale Haltung bei der progressiven Machtübernahme in der EKD und die Ablehnung des harten Kurses seiner Partei angesichts der neuen Ostpolitik.

Opportunismus und politischer Überlebenswille

Trotzdem trennten ihn von der Linken immer der Habitus, die Härte, mit der er notfalls – wie in den Jahren 1980 bis 1984 als Regierender Bürgermeister von Berlin – die staatliche Ordnung verteidigte, die Kritik des Klientelwesens, das bleibende Bekenntnis zur Einheit der Nation wie zur Bedeutung der preußischen Überlieferung. Das ist auch deshalb zu betonen, weil Weizsäckers Bild zuletzt von der Bereitwilligkeit bestimmt sein wird, mit der er sich im entscheidenden Fall den Argumentationsmustern und Sprachregelungen der Gegenseite unterwarf.

Wer mag, kann auch das als Ausdruck innerer Unabhängigkeit betrachten, aber näher an der Realität ist wohl die Einschätzung, daß es um Opportunismus ging oder um politischen Überlebenswillen, unumgänglich, weil jede andere – mithin rechte – Positionierung einem Mann mit Weizsäckers Hintergrund Laufbahn und Aufstieg im Nachkriegsdeutschland unmöglich gemacht hätte.

Thorsten Hinz: Der Weizsäcker-Komplex. Eine politische Archäologie. Edition JF, Berlin 2012, gebunden, 356 Seiten. Abbildungen, 24,80 Euro

Foto: Richard von Weizsäcker bei seiner Rede im Bonner Bundestag am 8. Mai 1985 während der Feierstunde zum vierzigsten Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkrieges: „Wer seine Ohren und Augen aufmachte, wer sich informieren wollte, dem konnte nicht entgehen, daß Deportationszüge rollten. Die Phantasie der Menschen mochte für Art und Ausmaß der Vernichtung nicht ausreichen. Aber in Wirklichkeit trat zu den Verbrechen selbst der Versuch allzu vieler, auch in meiner Generation, die wir jung und an der Planung und Ausführung der Ereignisse unbeteiligt waren, nicht zur Kenntnis zu nehmen, was geschah. (…) Es gab viele Formen, das Gewissen ablenken zu lassen, nicht zuständig zu sein, wegzuschauen, zu schweigen. “

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